© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/19 / 31. Mai 2019

Der Konsens hat sich aufgelöst
Kultur des Banalen: Wie Influencer in den Netzwerken unsere Gesellschaft verändern
Thorsten Hinz

Die Journalistin Anja Rützel hatte Ende April eine Begegnung der unheimlichen Art. Am Anfang stand eine harmlos-launige TV-Kritik, die sie für Spiegel Online über eine Preisverleihung verfaßt hatte. Es ging um den „About You Award“, ausgelobt von einem Online-Modeshop, mit dem die einflußreichsten Stars der sozialen Medien – neudeutsch: Influencer – im deutschsprachigen Raum ausgezeichnet werden. Hierbei handelt es sich um Personen, die (laut Wikipedia) aufgrund ihrer starken Präsenz und ihres „hohen Ansehens“ in einem oder mehreren sozialen Netzwerken als Träger für Werbung  und Vermarktung in Frage kommen. Sie gelten als „Experten“ und Vorbilder und verfügen über eine große Anzahl an Followern und Abonnenten, also Empfänger ihrer Nachrichten auf  Twitter, YouTube, Facebook und Instagram. Ausgestrahlt wurde die Veranstaltung vom Privatsender Pro Sieben. Der Artikel war mit milder Süffisanz für das „Unterschichtenfernsehen“ getränkt, doch keinesfalls verächtlich oder bösartig.

Mit Süffisanz bedacht wurde auch das Jury-Mitglied, die Komikerin und Moderatorin Enissa Amani, eine gebürtige Iranerin. Die 37jährige fühlte sich beleidigt, bezichtigte Rützel der Fremdenfendlichkeit und animierte ihre 500.000 Follower, ihr die Meinung zu geigen. Die erlebte den Shitstorm so ungläubig wie hilflos. „Bis jetzt habe ich mir solche komplett wahnsinnigen Eskalationen ja immer nur als faszinierter Gaffer angeschaut. Mittendrin zu stehen ist extrem unangenehm.“ Sie sah sich gezwungen, ihr Instagram-Profil auf „privat“ umzustellen. Als ein AfD-Politiker ihre Nachricht teilte, wurde sie von Amani aufgefordert, sich zu distanzieren. Rützel apportierte brav: „Natürlich finde ich diesen widerlichen Versuch der Vereinnahmung genauso ekelhaft wie Sie und distanziere mich davon.“ Das half ihr aber nicht. „Seit gestern abend werde ich auf diversen Social-Media-Seiten als Quasi-Nazi und ‘AfD-Nutte’ beschimpft“, teilte sie über Twitter mit. Aus der Siegerposition lenkte Amani schließlich großmütig ein.

Mediale Machtverhältnisse verschieben sich

Die Schadenfreude darüber, daß es Rützel in Stellvertretung für den Spiegel erging wie Goethes Zauberlehrling, sollte man tunlichst unterdrücken. Der Nazi-Besen, den das Wochenmagazin stets herbeiruft, um Rechte und Konservative politisch und sozial zu entsorgen, will nicht mehr in die Ecke und richtet sich bei Bedarf gegen die eigenen Autoren. Das ist aber nur ein Aspekt dieses Vorgangs. Ein anderer ist die Verschiebung der medialen Machtverhältnisse. Immerhin ist der Spiegel – mit fallender Tendenz zwar – das nach Bild mächtigste Printmedium in Deutschland und seine Online-Ausgabe entsprechend einflußreich. Trotzdem gelang es der Autorin nicht, genügend Anhänger zu mobilisieren, um den Angriff abzuwehren und in die Offensive zu gehen.

Die Affäre ist somit auch ein Lehrstück über den Vormarsch der digitalen und den Rückzug der analogen Medien. Dadurch wird der öffentliche Raum thematisch, sozial und nach Alterskohorten weiter fragmentiert. Es existiert kein gemeinsames Forum, auf dem die unterschiedlichen Gruppen sich treffen und austauschen. Um so lauter ist der Knall, mit dem auf den jeweiligen Kanälen die Wut über den anderen explodiert. Wer die ironische Kolumne von Anja Rützel zu deuten vermag, meidet in der Regel den Sender Pro Sieben – von der „Simpson“-Serie natürlich abgesehen – und hält „Amani“ für eine Modemarke. Enissa Amani und ihre Anhänger hingegen stehen für „Trash“, für die Kultur des Banalen, und beanspruchen dafür gleichberechtigte Geltung. Dank der sozialen Netzwerke können sie Kritiker majorisieren, einschüchtern, zum Verstummen bringen.

Aus heutiger Sicht erscheint eine Konstellation, die Jürgen Habermas 1962  im „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ als problematisch und „illiberal“ beschrieb, als überschaubar und geradezu idyllisch. Er unterschied zwischen „nicht-öffentlichen Meinungen“, die im Privaten, in Familienzusammenhängen, sozialen Gruppen kursieren, und den „quasi-öffentlichen“, „formellen“ Meinungen, die durch Institutionen, durch offizielle und offiziöse Verlautbarungen, Bekanntmachungen und Erklärungen verbreitet werden. Die Verbindung zwischen beiden Sphären stellten die Massenmedien her, die darauf angelegt seien, das Publikum zu manipulieren und eine „plebiszitäre Folgebereitschaft“ zu erzeugen. Der Willkür seien allerdings Schranken gesetzt durch die „kulturellen Selbstverständlichkeiten, die als eine Art Bodensatz der Geschichte“ konstant blieben. 

Dieser vorausgesetzte Konsens hat sich aufgelöst. Die technisch-mediale Segmentierung findet zur selben Zeit statt, in der die Gesellschaft sich entlang ethnischer, kultureller und religiöser Trennlinien ebenfalls segmentiert. Außerdem justiert die Verschiebung der demographischen auch die kulturellen, medialen und gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse neu. Sie bildete auch in der Rützel-Amani-Kontroverse den Subtext. Der Vorwurf der „Ausländerfeindlichkeit“ an Rützels Adresse war absurd, aber wirksam.

Rapper machen Eindruck bei ihren Fans

Eine Stufe tiefer, auf der Ebene der Jugendkultur, sind die Verhältnisse bereits eindeutig. Vor einem Jahr provozierten die Rapper Farid Bang und Kollegah mit der Zeile „Mein Körper definierter als von Auschwitzinsassen“ aus dem Song „0815“ einen Tabubruch, der von ihren Anhängern goutiert wurde oder gar nicht als solcher empfunden wurde. Daß diese Szene von den etablierten Medien lange kaum wahrgenommen wurde, kann ihr gleichgültig sein. Sie hat sie überhaupt nicht nötig, ist sie doch über andere Kanäle fest etabliert.

Während das altersschwache öffentlich-rechtliche Fernsehen unverdrossen Volkstümliches präsentiert, ist der Rapper Capital Bra – ein Kompositum aus „Kapital“ und „Bruder“ (russisch: Brat) – auf Youtube ein Superstar. Der 24jährige Rapper heißt in Wirklichkeit Vladislav Balovatsky, wurde 1994 in Sibirien geboren und kam als Siebenjähriger mit seiner Mutter nach Berlin. Wegen kleinkrimineller Delikte wurde er mehrmals zu Jugendstrafen verurteilt und brach in der 9. Klasse die Schule ab. Geschadet hat es ihm nicht. In seinem Video „Berlin lebt“ posiert er vor teuren Sportwagen, Motorrädern und mit finsteren Türsteher-Figuren; Goldene Schallplatten werden ins Bild gesetzt und dokumentieren seine Erfolgsgeschichte. Er hat bereits die zwölfte Nummer eins in den deutschen Charts plaziert und damit sogar den Rekord der Beatles zu ihrer Zeit gebrochen. Seine Lebensphilosophie macht Eindruck bei seinen migrantischen wie deutschen Fans: „Meine Lehrer fragten damals, ‘Was soll später aus dir werden?’ / Und heute drück’ ich Karren mit sechshundertachzig Pferden (ja)“. Er hat sich perfekt den Sprechgesang der türkisch-arabischen Migranten angeeignet. Ähnlich die „Straßenbande 187“, die überwiegend aus deutschen Rappern besteht, aber in Auftritt und Sprache einen südländischen Habitus pflegen. 

Mögen alternative politische Plattformen und Blogs sich über einige tausend Follower freuen und sich als Gegenöffentlichkeit verstehen – die Rapper zählen zwischen ein und zwei Millionen Abonnenten, generieren zig Millionen Clicks und Hunderttausende Likes.

Populär sind auch Celo & Abdi, der eine kommt aus Bosnien, der andere aus Marokko. Wikipedia faßt ihre Songs so zusammen: „Charakteristisch sind Schilderungen aus dem Frankfurter bzw. europäischen Kriminellenmilieu, so werden beispielsweise Drogendeals oder Produktionsprozesse zur Rauschgiftherstellung beschrieben. Des weiteren verwenden sie zahlreiche Lehnwörter aus Fremdsprachen, vorzugsweise aus dem Arabischen, Kurdischen, Bosnischen, Türkischen, Französischen, Albanischen oder Spanischen.“ Ein Text-Beispiel: „Innenstadt City, Maghreb, Gipsy, Balkan, Sintis, Ankara cincins / Von Panama bis Rhein-Main Airport …/ Frankfurt am Main Subkultur / Vorstrafen frei sein ist hier Luxus pur“. Im Netz verbreiten Celo & Abdi die Botschaft: „Auch der Kai-Uwe kann ein Kanake sein und sogar mehr Kanake als ein Ausländer. Kanake ist nicht die Herkunft, sondern der Lifestyle.“ 

Das sind klare Ansagen, die zeigen, wie weltfremd die Vorstellung von „Integration“ ist und auf welchem Niveau das Zusammenleben, das nach den Worten der früheren Integrationsbeauftragten Aydan Özoguz täglich neu ausgehandelt werden muß, künftig stattfinden wird. Die weißen „Kiddies“ aber, die auf ihren „Fridays for future“-Kundgebungen Widerstand simulieren – welche Zukunft, glauben sie, steht ihnen bevor?

Der einseitig geführte Streit zwischen Amani und Rützel spielte sich relativ gesittet, weil ausschließlich im virtuellen Raum ab. Doch von dort bis in den realen Raum ist es nur ein kleiner Schritt. Am 21. März kam es in Berlin auf dem Alexanderplatz zu einer Massenschlägerei, bei der Hunderte junge Männer aufeinander losgingen. Zwei verfeindete türkische Youtuber hatten zum Treffen aufgerufen, bei dem auch Schottersteinen aus dem U-Bahn-Gleisbett zum Einsatz kamen.

Im „Anschwellenden Bocksgesang“, den Botho Strauß vor 26 Jahren veröffentlichte, heißt es noch: „Von der Gestalt der künftigen Tragödie wissen wir nichts.“ Ihre Konturen zeichnen sich heute ab.