© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/19 / 31. Mai 2019

Frömmelei und Brutalität
Getreuliche Milieustudie: In seinem Film „Oray“ zeigt Regisseur Mehmet Akif Büyükatalay das Innenleben einer türkischen Gemeinschaft
Sebastian Hennig

Die literarische Stilisierung von Autoren wie Feridun Zaimoglu sowie diverse Nummernkomödianten mit einschlägigem Hintergrund haben den äußeren Habitus junger Türken in der Bundesrepublik dem Publikum hinreichend bekannt gemacht. Ein deutliches Bild deren innerer Verfassung vermittelt uns der in Hagen geborene Regisseur und Drehbuchautor Mehmet Akif Büyükatalay in seinem ersten Spielfilm. „Oray“ ist seine Abschlußarbeit an der Kunsthochschule für Medien in Köln.

Der Autorenfilmer spricht von einem „im muslimischen Milieu angesiedelten universellen Liebesfilm“. Mehr noch als diese Erzählung einer universellen Liebe ist die Darstellung des konkreten Milieus dazu angetan, die Neugier des Zuschauers gleichermaßen zu wecken und zu stillen. Denn das Schicksal des jungvermählten Paares Oray (Zejhun Demirov) und Burcu (Deniz Orta) wird überstrahlt von der bemerkenswerten Ausleuchtung ihres Lebensumfelds.

Die Trostlosigkeit und die Stupidität sind nicht nur ernüchternd, sondern beinahe schon wieder beruhigend. Die schmucklose Wirklichkeit wird genauestens beobachtet, so daß der Film zuweilen wirkt, als wäre er mit einer versteckten Kamera aufgenommen. Dieser Eindruck wird vor allem hervorgerufen von einigen Protagonisten, die keine Schauspielschule durchlaufen haben, einmal abgesehen von dem gewöhnlichen Imponiergehabe ihrer Gruppe, dem bereits auch einiges an theatralischer Professionalität innewohnt. Büyükatalay benennt „Laien aus der Hagener Moscheegemeinde oder Instagram-Influencer. Fast alle standen das erste Mal vor der Kamera. Sie alle verband die Nähe zur erzählten Welt. Sie kannten sie und waren imstande, die Drehbuchpassagen glaubhaft zum Leben zu erwecken.“

Die Geschichte ist rasch erzählt, bedarf weder der sozialromantischen Verklärung noch der Dämonisierung. Alles ist ganz banal. In einer zornigen Aufwallung trennt sich Oray von seiner Frau Burcu. Nach einem Streit, der mehr aus einem Mißverständnis resultierte als aus Uneinigkeit, nimmt sie vorübergehend seine Anrufe nicht mehr an. Als sich ihre Mailbox einschaltet, brüllt der unbeherrschte Kerl die islamische Scheidungsformel: „Talaq, talaq, talaq.“

Unbarmherzig bringt der Film den Januskopf aus Frömmelei und Brutalität zur Ansicht, die giftige Mischung aus Sentimentalität und Unbeherrschtheit, technischer Versiertheit und Gedankenlosigkeit. Später, vor der eingeketteten Wohnungstür stehend, beschwört er die Frau, seine Nachricht nicht abzuhören. Seine ganze Haltung bleibt kläglich. Grobianismus, Geistlosigkeit und Orthodoxie machen ihn zum Knecht seines Temperaments.

Der Islam als seelisches Fitneßprogramm

Oray sucht beim Hodscha einer Koranschule Aufklärung darüber, was er da eigentlich getan hat, und verstrickt sich dadurch noch tiefer in seinen Irrtum. Ein Dümmerer hilft dem Dummen. Der Lehrer ruft seinerseits eine Autorität an, welche fernmündlich die Auskunft erteilt, der Mann müsse sich nun drei Monate von seiner verstoßenen Frau fernhalten. Nach dieser Probezeit können sie entscheiden, ob sie wieder zusammenleben oder sich endgültig trennen wollen.

Als er in stupidem Gehorsam seine Sachen holt, fordert ihn Burcu dazu auf, ihr die Scheidungsformel ins Gesicht zu sagen. „Haben wir nicht Augen und Ohren.“ Als er das begreiflicherweise nicht vermag, verkennt er gleichwohl die Konsequenz, daß seine Aufwallung töricht und gegenstandslos war. Statt dessen unterwirft er sich einer Doktrin, die seine Eitelkeit zunächst weniger kränkt. Er reist nach Köln und findet in einer Männergesellschaft Aufnahme, die ihre Haltlosigkeit mit Frömmelei auszustaffieren gewohnt ist. Hier bewährt Oray sich als charismatischer Prediger. Sein Bekenntnis klingt wie eine Drohung: „Nur der Islam kann uns ruhig halten, weil wir wild sind.“ Sein Vortrag wird sofort ins Netz gestellt. Am Tisch einer Spelunke werden die Zugriffe gezählt. Doch die brutale Inbrunst wird scheitern. Als er bei einem Trödler aushilft und diesem mit seiner Frömmelei auf die Nerven geht, weist ihn der lebenskluge Landsmann zurecht: „Reg’ dich nicht auf! Wichtig ist, was du glaubst, und nicht, was die anderen glauben.“

Der Regisseur bleibt bis zuletzt seiner Absicht einer „unkommentierten Bestandsaufnahme“ treu und wahrt die „faszinierte Distanz und kritische Beobachtung“ des gewöhnlichen Geschehens. „Dadurch, daß ich als Filmemacher an der Gestaltung von Fragestellungen und einem öffentlichen Bild teilhaben kann, sah ich mich notwendig dazu veranlaßt, an der Repräsentation des Islam zu arbeiten und dort nachzujustieren, wo dieser einseitig, im schlimmsten Falle fehlerhaft gezeichnet ist.“ So sehen wir eine Religion, die von ihren Anhängern zum seelischen Fitneßprogramm heruntergestuft ist.

„Die Kritik sollte durch die Spiegelkraft dokumentarischen Erzählens gelingen“, wünscht sich der Regisseur von seiner Darstellung. Das gelingt in den Bildern ganz gut. Die letzte Szene beinhaltet ein gegenseitiges Eingeständnis der Schwäche zwischen den Männern und endet mit dem Entschluß: „Komm, laß beten!“ Minutenlang fokussiert die Kamera den zerschlissenen Türrahmen mit den alten Anstrichen und der Überputzleitung, während sich unscharf und wolkenhaft dahinter die Beter erheben, aufeinander zutreten und sich wechselseitig umfangen. Mit diesem Anblick endet der Film. Die Einsicht in das Leben besiegt die Bigotterie.