© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/19 / 31. Mai 2019

Von Völkern und Eindringlingen
Vielfältige Wurzeln: Die Ausstellung „Europa in Bewegung“ in Bonn zeichnet das Bild einer dynamischen Gesellschaft im Übergang zum frühen Mittelalter
Felix Dirsch

Dynamik, Mobilität und Vernetzung sind Grundprinzipien modernen Lebens. Von dieser Einsicht ausgehend, leuchtet es ein, daß Historiker auch vergangene Zeitalter nach der Wirkmacht solcher Grundsätze befragen. Dies gilt auch für die Antike und für das Mittelalter, besonders für dessen frühe Phase. Gerade die Völkerwanderung bewirkte eine Transformation des menschlichen Zusammenlebens, die ihresgleichen bis heute sucht. Gegenwartsbetrachter wie der kürzlich verstorbene Historiker Hans-Peter Schwarz sprechen von der „neuen Völkerwanderung“, wenn sie die oft als „Flüchtlingsdrama“ verharmloste Migrationsproblematik analysieren, die weitaus größere Dimensionen offenbart.

Vor diesem Hintergrund ist die Attraktivität des internationalen Ausstellungsprojekts „Europa in Bewegung – Lebenswelten im frühen Mittelalter“, das den Zeitraum von 300 bis 1000 nach Christus in den Blick nimmt, zu erklären. Die Fülle der Wandlungen kann natürlich nicht annähernd auf engem Raum dargestellt werden: Ortsveränderungen, Verlagerung von Märkten, neue klimatische Bedingungen, Wechsel von Kulten und Identitäten, neue Werkzeuge, geänderte Herrschaftsverhältnisse, um nur wenige Beispiele zu erwähnen. 

Die Ausstellung präsentiert den Stoff in mehreren größeren Kapiteln: Religion, Wissen, Vielfalt der Völker (beispielsweise Hunnen, Kopten, Awaren oder Langobarden), Kriege und so fort. Die Fülle des Präsentierten ist übersichtlich gegliedert.

Über 150 Objekte aus diversen europäischen Museen vermitteln profunde Einblicke in menschliche Lebenswelten. Als eindrucksvoller Gegenstand, der zu bestaunen ist, darf eine aufwendig geschmückte Gürtelschnalle aus der Zeit zwischen 580 und 620 gelten. Auf ihr ist das Leitbild der Präsentation zu sehen: ein Mann, der in jeder Hand ein Schwert hält und um dessen Hals sich eine Schlange ringelt. Neben den Artefakten versuchen etliche Filmsequenzen die damalige Lebenswelt mit neuester Technik zu simulieren, die aber leider gelegentlich defekt ist.

Es liegen relativ wenige schriftliche Zeugnisse vor

Um die Verwirrung ob der zahlreichen Orte, Völker, Neuansiedelungen und so fort zu verringern, ist am Anfang der Ausstellung eine ausführliche Zeitleiste zu sehen, die eine grobe Orientierung bietet. Karten verdeutlichen, in welche Regionen das Römische Reich zerfallen ist. Den Untergang des weströmischen Reiches setzt man üblicherweise mit dem Jahr 476 an. Unstrittig ist freilich, daß jene Wandlungen, die dazu geführt haben, weit früher begannen.

Was Ausstellungen wie die aktuelle konzeptionell erschwert, ist die Tatsache, daß zwar jede Menge Artefakte ausgegraben wurden, aber relativ wenig schriftliche Zeugnisse vorliegen. So bleibt ein manchmal zu breites Spektrum für Interpretationen. Daß man einen Mann der Zeitenwende wie den Literaten Boethius, der zwischen die Fronten geriet und hingerichtet wurde, näher thematisiert, hängt auch damit zusammen, daß er einen der relativ wenigen zeitgenössischen Einblicke gibt (zusammen mit arabischen Schriften). Die meisten wichtigen Zeugnisse sind erst lange nach den Ereignissen, über die sie berichten, verfaßt.

Daß die Welt des frühen Mittelalters zwischen Irland und Spanien im Westen und Ägypten, Ungarn und Persien im Osten auch nach der langsamen Seßhaftwerdung im Laufe der Jahrhunderte dynamisch blieb, ist nicht zuletzt durch die Eindringlinge von außen (und die Verteidigungsbereitschaft im Inneren) bedingt. Wikinger und kampfbereite Mohammed-Jünger hielten die immer mehr zu einer inneren Einheit zusammenwachsenden Völker in Atem – vornehmlich durch Einflüsse der römisch-katholischen Kirche und kulturell-organisatorische Relikte der römischen Vergangenheit.

Zu einem gewissen Pluralismus trug auch das Mit- und vor allem Gegeneinander der drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam bei. Der eine Gott ist eine wichtige Gemeinsamkeit, auch wenn er meist nicht als der gleiche verstanden wurde. Die Ausstellung präsentiert einige imposante Zeugnisse, die den Eindruck vermitteln, daß der heute oft angenommene „Kampf der Kulturen“ nur bedingt auf damalige Zeiten zu übertragen sei. Karl der Große erhielt sogar einen Elefanten als Gastgeschenk des Kalifen von Bagdad. Positiv vermerkt wird die Mitarbeit von Christen in islamischen Zentren während der Hochzeit der sogenannten islamischen Aufklärung (zur Zeit der Periode des westlichen Mittelalters). Weitreichend waren auch Kultur- und Handelskontakte zwischen Ost und West.

Gemeinschaften definierten sich über Abstammungen

Natürlich spielt für die Ausstellung der Identitätsbegriff eine zentrale Rolle, gilt es doch, rund 700 Jahre zusammenzubinden. Die Aufgabe besteht darin, zu beantworten, wie Menschen sich sehen. Darüber geben unter anderem Kunst und Literatur Aufschluß. Diesbezügliche Hinweise finden sich in der Ausstellung viele. Aufbrüche existierten auch in dieser Periode so viele wie Abbrüche. Die Bauprojekte des Kaisers Justinian in Ravenna, um ein Beispiel zu nennen, und die islamische Kunst führten zur Entstehung eines zukunftsweisenden Kunst- und Architekturkanons. 

Gewiß fehlen nicht politische wie kulturelle Korrektheiten, wenn die Initiatoren der Präsentation das Zusammenfließen von Kulturen und die Überschreitung von ethnisch-kulturellen Grenzen herausstellen. Betont wird nachdrücklich, daß sich die vielen Gemeinschaften, die sich im Ausstellungszeitraum teilweise erst nach und nach gebildet haben, selbst noch stark über (tatsächliche oder vermutete) Abstammungsbande definierten; jedoch stand eher das sie Verbindende in den Bereichen Ökonomie und Recht im Vordergrund. Jedenfalls meinen manche Interpreten, diese Schlüsse im nachhinein ziehen zu können. Ob es sich dabei nicht um viel spätere Projektionen handelt, soll dahingestellt bleiben.

Den Ausstellungsmachern ist es geglückt, die den Heutigen vertrauten Phänomene (Komplexität, Dynamik, Vielfalt) in die damalige Epoche zu übertragen. Manche Details wären durchaus verbesserungsfähig gewesen. So ist zwar die Gestaltung des Katalogs gut gelungen, jedoch fehlt dem Interessierten ein Audioguide, der ihm über die Kurzinformationen hinaus die einzelnen Gegenstände näherbringt. Das sollte aber nicht vom Besuch abhalten.

Die Ausstellung „Europa in Bewegung – Lebenswelten im frühen Mittelalter“ ist bis zum 25. August im  LVR-Landesmuseum Bonn, Colmantstraße 14-16, täglich außer montags von 11 bis 18 Uhr, Sa. ab 13 Uhr, zu sehen. Telefon: 0228 / 20 70-351

Der Katalog (Theiss Verlag) mit 208 Seiten und 213 Abbildungen kostet im Museum 22 Euro und im Buchhandel 29,90 Euro.

 www.landesmuseum-bonn.lvr.de