© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/19 / 31. Mai 2019

Tödliche Befruchtung
Ernst Jüngers „Burgunderszene“: Der Schriftsteller Martin Mosebach zu Gast bei einer Studentenverbindung in Hamburg
Ansgar Lucassen

Vor 75 Jahren notierte Ernst Jünger eine seiner berühmtesten Tagebuch-Eintragungen, die legendäre Burgunderszene: „27. Mai 1944. Alarme, Überfliegungen. Vom hohen Dache des Raphael sah ich zweimal in Richtung von St. Germain gewaltige Sprengwolken aufsteigen. (…) Beim zweiten Mal, bei Sonnenuntergang, hielt ich ein Glas Burgunder, in dem Erdbeeren schwammen, in der Hand. Die Stadt mit ihren roten Türmen und Kuppeln lag in gewaltiger Schönheit, gleich einem Blütenkelche, der zu tödlicher Befruchtung überflogen wird.“

Nach ihrer Veröffentlichung im Kriegstagebuch „Strahlungen“ (1949) sollte gerade diese kurze Eintragung das Urteil über den Dichter nachhaltig prägen. Und zwar mehrheitlich durchaus vernichtend. „Jünger, ein Rhetoriker des Schreckens“, urteilte der Germanist Karl Heinz Bohrer, und Thomas Mann knurrte verächtlich: „Ein eiskalter Genüßling des Barbarismus.“ 

Jünger selbst hat die Szene nie relativiert oder gar bei Überarbeitungen seines Werks gestrichen; obwohl oft darauf angesprochen, blieb der Autor seltsam einsilbig. Erst 2005 gelang dem literaturwissenschaftlichen Autodidakten Tobias Wimbauer eine Neu-Interpretation der Burgunderszene. Er wies nach, daß es am 27. Mai 1944 keine Bombenangriffe auf Paris gegeben habe. Und pikant: Der verheiratete Wehrmachts-Hauptmann Jünger habe eine Affäre zu einer ebenfalls verheirateten Kinderärztin unterhalten, Sophie Ravoux. Was nahelege, daß es sich bei dem beschriebenen Geschehen im Hotel Raphael um ein Vexierbild handle und rote Kuppeln, Sprengwolken, der Burgunder und vor allem die Erdbeeren eine erotische Konnotation besäßen, also Dingsymbole seien.

Den Reiz der Burgunderszene hat diese Enthüllung keinesfalls getrübt, im Gegenteil. Der kalte ästhetische Grusel wurde beim Leser gewissermaßen um eine libidinöse Farbe ergänzt. Und so gab die Szene einem der ungewöhnlichsten literarischen Symposien Deutschlands den Namen: dem „Ernst-Jünger- Abend – Erdbeeren in Burgunder“. Schon zum sechsten Mal veranstaltete die Landsmannschaft Mecklenburgia in Hamburg, eine schlagende Studentenverbindung, im Mai diesen konservativ-kulturellen Salon.

Es werden Erdbeeren in Burgunder gereicht

Der Ablauf der Veranstaltung in der Verbindungsvilla am Hamburger Alsterkanal ist stets gleich: Zu Beginn wird die Burgunderszene verlesen, es folgt ein Vortrag oder die Lesung eines Referenten, und anschließend mündet der Abend in ein Symposium mit angeregten Gesprächen, zu denen, wen wundert es, Erdbeeren in Burgunder gereicht werden. Nachdem in den vergangenen Jahren sich der Publizist und Jünger-Biograph Heimo Schwilk und der 2018 allzu früh verstorbene Schriftsteller Ulrich Schacht die Ehre gegeben hatten, war dieses Mal der Georg-Büchner-Preisträger Martin Mosebach zu Gast.

Und der Frankfurter Dichter, dem der Ruf des „Grandseigneurs mit der Feder“ vorausgeht, enttäuschte die gut 70 anwesenden Gäste wahrlich nicht. Im edlen Tweed-Anzug, ein Champagner-Glas in der Hand, erläuterte er seine Sicht auf Jünger und die Szene, bevor er aus seinem Indien-Roman „Das Beben“ las. Jünger, so erklärte Mosebach, habe die Burgunderszene bereits in seinem 1939 erschienenen Roman „Auf den Marmorklippen“ antizipiert. Dort schaue der Ich-Erzähler von hoher Warte auf die brennende Stadt an der Marina, wobei er ein Glas Rotwein in der Hand halte. „Ich bewundere Jünger überaus“, verriet Mosebach. In den achtziger Jahren habe er ihm eine Erzählung gewidmet, wofür Jünger sich, so Mosebach, „ganz reizend bedankte“. Und als 1982 der große Streit ausbrach, ob die Stadt Frankfurt Ernst Jünger mit dem Goethe-Preis auszeichnen solle, warf Mosebach sich für Jünger in die Bresche und bewirkte zusammen mit anderen Fürsprechern, daß die Auszeichnung ihren verdienten Träger fand.

Nach lang anhaltendem Applaus für die Lesung aus Mosebachs „Das Beben“ – der Stil erinnerte in seiner hellen sprachlichen Virtuosität oft frappierend an Jünger – endete der Abend mit Gesprächen, über die Ulrich Schacht einst beeindruckt urteilte: „Hier ist eine Insel der Freien in einem Meer anschwellender Unfreiheit.“