© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/19 / 31. Mai 2019

Politisiert durch Merkels Jahrhundertbetrug
Die AfD-Politikerin Alice Weidel über ihren Start als Politikerin und die Erfahrungen, die sie in der sich anbahnenden Meinungsdiktatur gemacht hat
Jörg Kürschner

Es war eine Kampfansage der frisch gekürten Spitzenkandidatin für die Bundestagswahl auf dem AfD-Parteitag im Frühjahr 2017. „Die Politische Korrektheit gehört auf den Müllhaufen der Geschichte“, rief Alice Weidel in Köln aus und erntete frenetischen Beifall. Zwei Jahre später hat die Co-Fraktionsvorsitzende im Bundestag ihre „Gedanken über Deutschland“ aufgeschrieben. Die führende Oppositionspolitikerin zieht darin ein nüchternes Fazit. Das Land sei geprägt von „Meinungskartellen“, ja, eine „Meinungsdiktatur“ zeichne sich ab. Eine Einschätzung, die wohl auf negative Presse-Erfahrungen zurückzuführen ist. Verständlich, durfte doch ein mediokrer „Satiriker“ vom Norddeutschen Rundfunk, versehen mit dem Gütesiegel eines Landgerichts, in Replik auf Weidels Äußerung diese öffentlich als „Nazischlampe“ bezeichnen. 

Bei aller berechtigter Empörung übersieht die Autorin jedoch den Bedeutungsverlust vieler Mainstream-Medien, deren Interpretationshoheit wegen selektiver Berichterstattung schwindet. Gerade in der Mittelschicht, der sich die frühere Unternehmensberaterin verbunden fühlt, ist das Mißtrauen groß. Und die AfD-Bundestagsfraktion selbst konzentriert sich auf die sozialen Medien, hat Konsequenzen aus tendenziösen Darstellungen gezogen. Das „Zeitalter der Hypermoral“, das die Autorin ausgemacht hat, wird also in Frage gestellt.

Islamisierung abwenden und den Euro abwickeln

Ihrer Lebensgefährtin sei sie mit ihrem ständigen Gemotze über Merkels Politik gehörig auf die Nerven gegangen, erzählt Weidel augenzwinkernd. „Tue etwas“, wurde ihr entgegen gehalten, und so wurde sie wenige Monate nach Gründung der AfD Parteimitglied im Oktober 2013. Damals ging es um die verfehlte Euro-Rettungspolitik und den „Jahrhundertbetrug“, Deutschland werde nicht für Staatspleiten in der EU haften müssen. Nach Ansicht der promovierten Wirtschaftswissenschaftlerin hat der Euro keine Zukunft. Dessen Schicksal könnte sich am hochverschuldeten Italien entscheiden, meint die Verfasserin, das nur noch durch die Finanzspritzen der Europäischen Zentralbank  (EZB) am Leben gehalten werde. Auch die von Frankreich angestrebte Vergesellschaftung der Schulden durch Eurobonds werde den Zusammenbruch des Euros nur hinauszögern und das Haftungsrisiko Deutschlands noch erhöhen. Deutschland solle also die Reißleine ziehen und den „Euro-Dexit“ vorbereiten, fordert die AfD-Spitzenpolitikerin. Es ist interessant, was nach der Europawahl von diesen Plänen Zukunft haben wird. 

Ihr politisches Unbehagen in Sachen Euro erweitert sich bei der Masseneinwanderung durch Migranten um eine persönliche Facette. Die 40jährige fühlt sich an ihre Jugend in Harsewinkel erinnert, einer Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen. Dort habe sie im Freibad türkischstämmige Männer durchaus als Belästigung empfunden, erzählt sie aus ihrer Jugendzeit. Erfahrungen, die sie offenbar geprägt haben. 

Jedenfalls plädiert Weidel energisch für ein Bündel von Maßnahmen, um dem Islam, „der großen totalitären Herausforderung“ zu begegnen. Der Grundrechtsanspruch auf Asyl müsse durch eine institutionelle Garantie ersetzt und damit eingeschränkt werden, die Finanzierung von Moschee-Zentren durch ausländische islamische Organisationen beendet, Arbeitgebern das Recht eingeräumt werden, Kopftücher am Arbeitsplatz zu verbieten. Überlegungen des Islam-Kritikers Thilo Sarrazin, den Zuzug von Muslimen nach Deutschland zu begrenzen, will sich Weidel aber nicht anschließen.

Islamisierung abwenden, Asylrecht ändern, Euro abwickeln, Einwanderung begrenzen – es sind keine neuen Forderungen, die Weidel aufstellt. Ihr sei es darum gegangen, ihre Positionen ungefiltert in größerem Zusammenhang darzustellen, erläutert sie ihr Motiv, zur Feder zu greifen. In der Fraktion habe sie mit niemandem über das Buchprojekt gesprochen. Auch nicht mit ihrem Co-Vorsitzenden Alexander Gauland. Vielleicht wäre ihr Sitznachbar im Bundestag gern eingebunden gewesen? An Gelegenheiten zum Gespräch während langer Plenardebatten wird es nicht gefehlt haben. So blieb ihr erstes Buch aber ein ganz persönliches Projekt, wie sie schmunzelnd anmerkt.

Alice Weidel: Widerworte. Gedanken über Deutschland. Plassen Verlag, Kulmbach 2019, broschiert, 147 Seiten, 14,99 Euro