© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/19 / 07. Juni 2019

„Der kalte Griff nach der Macht“
Steckt hinter dem Strache-Ibiza-Video ein weiterer, ganz anderer Skandal? Haben Kanzler Kurz und die ÖVP versucht, die Affäre zu nutzen, um putschartig die ganze Regierung zu übernehmen? Das meint Herbert Kickl, bis zum Koalitionsbruch Innenminister der FPÖ
Moritz Schwarz

Herr Kickl, welche „falsche Geschichte“, wie Sie sagen, wird über die Folgen der „Ibiza“-Affäre erzählt?

Herbert Kickl: Eines vorweg: Als das Video veröffentlicht wurde, war für uns in der FPÖ klar, daß es Konsequenzen geben muß und die beiden Akteure zurückzutreten haben. Die ÖVP und Sebastian Kurz stellten allerdings die Abläufe nach dem Erscheinen des Videos falsch dar. Und auch die Begründung, warum ich als Innenminister unbedingt wegmußte, ist nur vorgeschoben. 

Wie war es nach Ihrer Ansicht tatsächlich? 

Kickl: Es gab am betreffenden Freitag und Samstag Gespräche zwischen Sebastian Kurz, seinem Berater Stefan Steiner, HC Strache und mir. Darin ging es um den Rückzug Straches aus allen Funktionen und um eine Weiterführung der Regierung mit Norbert Hofer als Vizekanzler sowie um ein „Transparenz-Paket“, das man auch als eine Art moralischen Kompaß bezeichnen könnte.

Ging es auch um Ihre Ablösung?

Kickl: Daß ich aus dem Innenministerium weichen sollte, war nicht einmal ansatzweise Thema. Dem Bundeskanzler war merkwürdigerweise nur wichtig, daß HC Strache in seiner Rücktrittsrede nicht sagen soll, daß er aus allen Ämtern zurücktritt, damit die erfolgreiche Regierungsarbeit weitergehen kann. Strache hat seine Erklärung – wie vereinbart – Samstag mittag abgegeben. Auf die Erklärung des Kanzlers, die unmittelbar danach folgen sollte, haben wir dann gewartet und gewartet – aber sie kam bis zum Abend nicht. Dafür wurde im Verlauf des Samstags von Sebastian Kurz die Forderung gestellt, ich müsse das Innenministerium verlassen und es dürfe mir auch kein anderer Freiheitlicher nachfolgen. Das zeigt, daß es der ÖVP nicht um die Staatsräson und nicht um das Regierungsprojekt ging. Es ging ihr einzig und allein um Machtpolitik und um die Rückgewinnung des Innenministeriums für die ÖVP, das 17 Jahre lang den Mittelpunkt schwarzer Netzwerke in dieser Republik gebildet hat.

Eine Theorie lautet, Sie seien Kurz als Innenminister zu erfolgreich gewesen.  

Kickl: Faktum ist: Der freiheitliche Innenminister mußte raus aus dem Innenressort und, wie gesagt, kein anderer Freiheitlicher durfte nachrücken. Und das, obwohl wir in der Tat diejenigen gewesen sind, die in diesem Ressort mit der Asyl- und Migrationspolitik den populärsten Teil der Regierungsarbeit geleistet haben. Punkt für Punkt haben wir abgearbeitet, was wir der Bevölkerung vor der Wahl und dann im Regierungsprogramm versprochen haben, indem wir eine effiziente, effektive und geordnete Asyl- und Fremdenpolitik gewährleisteten. Und wenn Sebastian Kurz die Erfolge dieser Regierung aufzählt, dann fallen allerspätestens im zweiten Satz Begriffe wie „illegale Migration eingedämmt“ oder „Kampf gegen illegale Migration“. Es wird nicht müde zu betonen, wie erfolgreich wir in diesem Bereich gewesen sind – nur versucht er, diese Erfolge auf sein Konto zu buchen. In Wahrheit jedoch lautet das Fazit der Regierungsarbeit in einem Satz zusammengefaßt: Die FPÖ hat die illegale Migration bekämpft, die ÖVP das Plastiksackerl. Und dann hat die angebliche Partei der Mitte, die ÖVP, die Diktion von linken und grünen Demonstranten übernommen: „Kickl muß weg!“

Kurz dagegen nennt andere Gründe, nämlich Sie hätten unangemessen auf den Fall  „Ibiza“ reagiert sowie daß dessen Aufklärung mit Ihnen als Innenminister nicht möglich sei – Begründung: Zur Zeit der Entstehung des Videos waren Sie FPÖ-Generalsekretär und somit zuständig für deren Finanzfragen.  

Kickl: Wenn es Sebastian Kurz als unangemessen empfindet, daß man seinen kalten Griff nach hundert Prozent der Macht im Staat nicht widerspruchlos hinnimmt, sagt das mehr über die ÖVP und ihn aus als über mich. Und als Generalsekretär trägt man für etliche Dinge in der FPÖ die Verantwortung, für eines aber sicher nicht, nämlich die Finanzen. Dafür gibt es den Finanzreferenten – und der war und bin ich nicht. Das sollte Kurz eigentlich wissen. Auch die zweite Behauptung, die aufgestellt wurde, ein freiheitlicher Innenminister würde der Aufklärung im Weg stehen, ist Blödsinn. Erstens ist die Herrin des Verfahrens immer noch die Justiz – und die war zum damaligen Zeitpunkt ÖVP-besetzt. Zweitens habe ich selbst das größte Interesse an der Aufklärung. Das gilt sowohl für das, was in dem Video gesagt wird, als auch für die Suche nach den Hintermännern. Und drittens erinnere ich an den Fall Ernst Strasser: Gegen den ehemaligen ÖVP-Innenminister wurde unter einem ÖVP-geführten Justizministerium und einem ÖVP-geführten Innenministerium wegen Korruption ermittelt – ohne daß irgend jemand die Ablöse dieser Ressortchefs gefordert hätte. 

Sie haben auch erwidert, daß ja die ÖVP-Staatssekretärin Karoline Edtstadler für die Ermittlungen in Sachen „Ibiza“ zuständig gewesen wäre. Aber hätten Sie nicht doch Einfluß gehabt, da sie zu Ihrem Ministerium gehört hat? 

Kickl: Angeblich wurde Frau Edtstadler ja sogar als ÖVP-Aufpasserin für mich installiert, hieß es am Anfang in den Medien. Aber im Ernst: Die Staatssekretärin hatte einen eigenen Verantwortungsbereich, festgehalten in der sogenannten Bestallungsurkunde, und dazu gehörte auch das Bundesamt zur Korruptionsprävention und Korruptionsbekämpfung. Das ist diejenige Behörde, die für solche Ermittlungen zuständig ist. Als ich Innenminister wurde, habe ich diese Einteilung bewußt so gewählt, um nur ja nicht irgendwann auch nur irgendeinen falschen Verdacht aufkommen zu lassen. Ich hätte natürlich theoretisch per Weisung in ihre Amtsführung in diesem Bereich eingreifen können. Aber glauben Sie mir: Ein solcher Versuch wäre noch am gleichen Tag in den Medien aufgeschlagen.

Ihrerseits haben Sie den Vorwurf erhoben, das ÖVP-geführte Justizministerium habe in Sachen „Ibiza“ Ermittlungen verhindert. Gibt es Beweise dafür?

Kickl: Das kann man aus Medienberichten nachvollziehen, wenn man eins und eins zusammenzählt. Ich sage Ihnen nur ein paar Punkte: Erstens wurde einem Bericht des Kurier zufolge unmittelbar nach Erscheinen des Videos seitens des Justizministeriums sinngemäß verlautbart, man sähe keine unmittelbare Ermittlungsnotwendigkeit. Am Samstag schaltete sich in plötzlichem Wochenendeifer die Oberstaatsanwaltschaft Wien – eine Aufsichtsbehörde wohlgemerkt, kein operatives Organ – in das Geschehen ein. Tenor: Es bestehe kein Anfangsverdacht. Am Sonntag gab es, wie man Medienberichten entnehmen konnte, einen Auftrag dieser Oberstaatsanwaltschaft Wien an die Korruptionsstaatsanwaltschaft, Erkundungen anzustellen. Erkundungen aber sind keine Ermittlungen, das ist ein feiner Unterschied. In der Zwischenzeit wird, soweit ich das Medien entnehme, ermittelt. Aber es sind wertvolle Stunden und Tage verstrichen, in denen Namen mutmaßlicher Hintermänner medial längst bekannt waren und somit massive Verdunkelungsgefahr bestand und bis heute besteht.

Wenn das Motiv für Kurz’ Forderung nach Ihrer Ablösung und Übergabe des Innenministeriums an die ÖVP der Griff nach mehr Macht war – wie Sie sagen–, dann relativiert das allerdings ein anderes Motiv, über das in freiheitlichen Sympathisantenkreisen spekuliert wird, nämlich: Ein blauer Innenminister muß weg, weil angeblich eventuelle Spuren der Affäre zur ÖVP führten. 

Kickl: Die alte ÖVP – insbesondere in ihrer Hochburg Niederösterreich – wollte eine kalte Machtübernahme im Innenressort. Dazu war ihr jeder Vorwand recht, nach dem Motto: Irgend etwas wird schon hängenbleiben. Kurz’ Beraterstab, der ihn ja im Auftrag der alten ÖVP steuert, hat ihm in seine Ansprachen vorsorglich einen bunten Strauß an Vorhalten und Behauptungen hineingepackt. Ein sachlicher Grund aber kann es nicht gewesen sein, wegen dem man mir den „Räumungsbescheid“ zugestellt hat. Das ist widerlegt. Die Behauptung, ich hätte Ermittlungen verzögert, ist auch widerlegt. Ich könne nicht gegen mich selbst ermitteln – widerlegt. Und dann muß man sich die Frage stellen: Was kann es dann sonst sein? Und unabhängig davon stellt sich noch eine Frage: Was haben etwa meine Amtsvorgänger, die beide aus der ÖVP Niederösterreich kommen, zu befürchten, wenn sich im Innenressort ein freiheitlicher Minister hält? Jetzt wo die österreichische EU-Ratspräsidentschaft abgearbeitet ist, wo wir den BVT-Untersuchungsausschuß bald hinter uns haben – BVT meint das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung –, hätte ich mich mit meinem Team vielleicht intensiver mit den Strukturen in diesem Haus auseinandersetzen können. Neben der Fortführung der konsequenten Asylpolitik und der BVT-Reform sowie der Verbesserung der Infrastruktur für die Polizei hätte ich als Innenminister als nächstes alle Beschaffungsvorgänge des Ministeriums genau unter die Lupe genommen. Warum wurde welcher Auftrag an wen vergeben? Ist alles sachlich nachvollziehbar? War alles korrekt? Vielleicht hat diese geplante Kontrolle im Interesse der Steuerzahler auch manche gestört.  

Kommen wir noch einmal zum Video zurück: Angeblich soll es schon vor zwei Jahren den etablierten Parteien zum Kauf angeboten worden sein, doch hätten die abgelehnt. Wenn das stimmt, dann führen keine Spuren zu ÖVP oder SPÖ. 

Kickl: Eine der Kernfragen ist doch: Wem nützte das Video? Und wem nützte es genau zu diesem Zeitpunkt? Sie wissen, daß Leute, die in sehr viel Kleinarbeit und auch im journalistischen Verbund schon sehr viel ans Tageslicht befördert haben, gesagt haben, daß Personen, die das Video operativ hergestellt haben, auch für das Innenministerium – vor meiner Zeit – gearbeitet haben sollen. Die zweite Komponente ist, daß dieses Video in einer Art Verkaufsoffensive Vertretern oder Beratern der verschiedenen Parteien in Österreich angeboten wurde. Ich glaube, daß das noch aufzuklären ist und daß ein freiheitlicher Innenminister dann eventuell unangenehmer wäre, als wenn die Aufklärungsarbeit, die auch die ÖVP tangieren könnte, von ÖVP-Ministern überwacht wird. Wir werden in der Video-Affäre auf jeden Fall noch sehr viel Aufklärungsarbeit in den nächsten Wochen und Monaten zu leisten haben. Dann werden wir sehen, ob die Aussage von Sebastian Kurz, daß am Ende die Wahrheit immer ans Licht dringt, nicht noch eine ganz andere Bedeutung bekommt, als er das jetzt glaubt. 

Ihnen ist im Innenressort zunächst Eckart Ratz, ehemaliger Präsident des Obersten Gerichtshofs, also ein renommierter Experte und kein Parteienvertreter nachgefolgt. Was hatten Sie gegen das zunächst vom Kanzler aufgestellte Experten-Kabinett?

Kickl: All diese unabhängigen Experten waren lediglich Feigenblätter – die Gesichter im Schaufenster. Die Regierungsbüros wurden sofort von Personen aus der Volkspartei, dem ÖVP-Parlamentsklub, also der Fraktion, und aus dem direkten Umfeld beziehungsweise den Büros des nunmehrigen Alt-Kanzlers besetzt. Bei der Nationalratswahl 2017 hat die Volkspartei 31,5 Prozent erreicht – doch so hätte sie plötzlich hundert Prozent der Regierungsmacht in Händen. Denn die schwarzen Büromitarbeiter sollten die Fäden ziehen, den Kurs im Sinne der ÖVP bestimmen. Und was das für ein Kurs hätte sein sollen, haben wir im Innenministerium gleich gesehen: Man hat dort agiert, als wäre man eine NGO und nicht das Ministerium, das die Sicherheit der Österreicher zu gewährleisten hat.

Haben Sie aber schließlich nicht mit Ihrer Zustimmung im Parlament zum Mißtrauensantrag der SPÖ gegen Kanzler Kurz eine Staatskrise heraufbeschworen?

Kickl: Wie man sieht, gibt es keine Staatskrise. Mit der jetzigen Übergangs-Bundesregierung bin ich zuversichtlich, daß die von Kanzlerin Brigitte Bierlein ausgewählten Ministerinnen und Minister die Verwaltung gut weiterführen werden, ehe sich im Herbst bei Neuwahlen die Gelegenheit für neue politische Weichenstellungen bietet. Die Unterstützung des Mißtrauensantrags aber war ein Akt der parlamentarischen Notwehr gegen den rücksichtslosen Griff  der ÖVP nach der Macht. Die Kaltschnäuzigkeit, mit der versucht wurde, alle Ministerien in die zu Hand bekommen, hat das schwarze Machtkartell entlarvt: Die wahren Mächtigen sitzen in der ÖVP Niederösterreich, die sogenannte Generalvollmacht des Parteiobmanns  also Parteichefs, Kurz ist nicht mehr als ein wertloses Stück Papier, wenn es darauf ankommt. Ich glaube ja, daß Kurz zu der Entscheidung getrieben wurde, eine sehr populäre Regierung in die Luft zu sprengen.

Sie sind bezüglich einer möglichen Neuauflage des schwarz-blauen Bündnisses skeptisch. Aber wie soll es ohne Koalitionspartner für die FPÖ politisch weitergehen? 

Kickl: Eine Koalition ist immer eine Frage des Vertrauens. Für mich geht es jetzt darum, daß die Hintergründe dieses Videos aufgeklärt werden. Und darum, was tatsächlich der Grund dafür war, daß das Innenressort partout nicht länger freiheitlich geführt sein durfte. Eines ist für mich sehr schwer vorstellbar: in eine Koalition zu gehen, wo sowohl das Justizressort als auch das Innenressort in Händen der ÖVP sind – das würde für die Republik nichts Gutes bedeuten. Aber es sind noch Monate bis zur Wahl, und in der Politik ist das eine halbe Ewigkeit. Wer weiß, was für Dinge noch an die Oberfläche kommen, die vielleicht ein ganz anderes Bild der letzten Tage und Wochen zeigen. Dann sind die Karten vielleicht ganz neu gemischt. Prinzipiell haben wir uns der Regierungsverantwortung nie verweigert und tun das auch jetzt nicht. Viele haben gesagt, die Freiheitlichen wollen nicht regieren – das haben wir widerlegt. Dann haben sie gesagt, wir können nicht verhandeln – das haben wir auch widerlegt. Und dann haben sie gesagt, die Freiheitlichen können nicht regieren  – und auch das haben wir widerlegt. Sonst würde Sebastian Kurz nämlich nicht unter allen Errungenschaften unserer Regierungsarbeit immer gleich die Asyl- und Migrationspolitik nennen – denn die weist eindeutig freiheitliche Handschrift auf. 






Herbert Kickl, war von Dezember 2017 bis Mai 2019 Bundesminister für Inneres der Republik Österreich. Zuvor saß der ehemalige FPÖ-Generalsekretär (2005 bis 2018) elf Jahre als Abgeordneter im Nationalrat, dem österreichischen Parlament. Dort ist er nun geschäftsführender Obmann (Vorsitzender) des FPÖ-Parlamentsklubs (Fraktion). Geboren wurde er 1968 in Kärnten.

Foto: Bundesminister Kickl bei einer Pressekonferenz im Mai: „Ich glaube, daß Sebastian Kurz zu der Entscheidung getrieben worden ist, eine populäre Regierung in die Luft zu sprengen“