© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/19 / 07. Juni 2019

Bätschi
Große Koalition: SPD-Vorsitzende Nahles tritt zurück / Union verliert in Umfragen weiter an Zustimmung / Neuwahlen sind möglich
Jörg Kürschner

Mit ihrem überraschenden Komplett-Ausstieg aus der Politik hat das SPD-Urgestein Andrea Nahles die existentielle Dauerkrise ihrer Partei verschärft und bestehende Zweifel am Fortbestand der Großen Koalition verstärkt. Erstmals war die SPD hinter der Union und den Grünen bei einer bundesweiten Wahl nur auf Platz drei gelandet. Die vom Ergebnis der Europawahl gleichermaßen schockierte CDU sorgt sich um ihren Status als Volkspartei und geriert sich als Stabilitätsanker der Regierung.

Am Morgen nach dem Wahldesaster in Europa und bei den Bremer Bürgerschaftswahlen hatte Nahles ihre SPD noch mit einem aufmunternden „Kopf hoch“ aufzumuntern versucht. Ihre SPD? Eine knappe Woche später traf die bald 49jährige, desillusioniert von den Machtspielchen nach 30 Jahren in der Politik, eine Lebensentscheidung, denn sie trat nicht nur als Partei- und Fraktionsvorsitzende zurück, sie will auch ihr Bundestagsmandat niederlegen. Gerade mal 13 Monate stand sie als erste Frau an der Spitze der SPD.

Nahles löste am vergangenen Sonntag im Berliner Regierungsviertel ein politisches Beben aus, das noch einige Zeit nachwirken wird. Statt „Kopf hoch“ sprachen führende SPD-Politiker gesenkten Hauptes von einer Existenzkrise ihrer Partei und hatten doch den Blick nach vorn zu richten. Wie im übrigen auch der gleichfalls durch eine Wahlniederlage verunsicherte Koalitionspartner CDU mitsamt ihrer angeschlagenen Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer (AKK). Das Wort Neuwahl bestimmte plötzlich die Diskussion.

Interesse an der Nahles-Nachfolge ist eher gering

Ob es tatsächlich zu einer vorgezogenen Wahl des Bundestages kommt, ist derzeit offen. Zunächst sind SPD und CDU damit beschäftigt, ihre Kampagnenfähigkeit wiederherzustellen. Im Herbst gilt es, schwierige Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen zu bestehen. Doch die SPD-Führungsreserve scheint nicht allzuviel Interesse an der Nahles-Nachfolge zu haben. Was daran liegen mag, daß Nahles nach 1987 die zwölfte Bundesvorsitzende der SPD war. Bei der CDU waren es seit 1973 mit Helmut Kohl, Wolfgang Schäuble und Angela Merkel nur drei Vorsitzende vor der jetzigen Amtsinhaberin AKK. Die drei Parteivize Malu Dreyer, Manuela Schwesig (Ministerpräsidentinnen von Rheinland-Pfalz und Mecklenburg-Vorpommern) sowie der hessische Partei- und Oppositionschef Thorsten Schäfer-Gümbel (Parteiname „TSG“) wollen als Interims-Führung erklärtermaßen nur den Übergang bis zur Wahl eines neuen Vorsitzenden auf einem Parteitag moderieren. Geplant war der Parteitag für Dezember. Wobei auch über eine Doppelspitze diskutiert werde, wie Dreyer bestätigte.

Insbesondere die 45jährige Schwesig überraschte in der kommissarischen Troika mit ihrer Kandidatur-Absage für den Parteivorsitz. Die aus Frankfurt (Oder) stammende Politikerin war immer wieder als mögliche Nahles-Nachfolgerin genannt worden. „Mein Platz ist in Mecklenburg-Vorpommern“, sagte sie, auch weil die AfD dreißig Jahre nach der friedlichen Revolution in der DDR die „Uhr wieder zurückdrehen will“. Anders verhält es sich bei Dreyer, unter den Genossen als die „Königin der Herzen“ verehrt , die wegen ihrer Multiple Sklerose-Erkrankung zeitweise auf den Rollstuhl angewiesen ist. TSG ist als dreifach gescheiterter Ministerpräsidenten-Kandidat eigentlich schon weg, tritt zum 1. Oktober eine gut dotierte Stelle als Arbeitsdirektor bei der staatlichen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) an. 

Auch andere führende Genossen zeigten wenig Interesse an dem Chefsessel im Willy-Brandt-Haus. „Keine Ambitionen“, befand Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil. Olaf Scholz, Bundesfinanzminister und Vizekanzler, hat ebenso abgewunken. Der Vorsitzende des konservativen Seeheimer Kreises, Johannes Kahrs, forderte ihn auf, seine Absage zu überdenken. Vorsichtiges Interesse bekundete nur Flensburgs Oberbürgermeisterin Simone Lange. Die Vertreterin des linken Parteiflügels hatte im April 2018 gegen Nahles kandidiert und immerhin knapp 28 Prozent der Delegierten überzeugen können. Sie forderte jetzt einen Mitgliederentscheid über den Verbleib der SPD in der Koalition. Juso-Chef Kevin Kühnert hielt sich bedeckt. „Die SPD braucht eine Entgiftung“, analysierte Nahles’ Vorvorgänger im Parteivorsitz, Sigmar Gabriel. Der SPD-Vorsitz als Belastung? „Das schönste Amt neben Papst“, hatte Franz Müntefering formuliert. Das war 2004. Heute beklagt die Partei der Solidarität „unsolidarisches Verhalten“ in ihren Reihen. 

Mit der Troika-Zwischenlösung will die SPD-Spitze einerseits den Eindruck widerlegen, die Partei sei führungslos, und andererseits auf Zeitgewinn setzen, um das Projekt Neuanfang optimal zu gestalten. Eine Vorentscheidung über den weiteren Weg der SPD dürfte auf der Vorstandssitzung am 24. Juni fallen. Dann soll es auch um die sogenannte Revisionsklausel gehen. Diese war auf Wunsch der SPD im Koalitionsvertrag verankert worden, um ihr anhand einer Halbzeitbilanz das Aussteigen aus dem Bündnis zu ermöglichen.

Diese Entscheidung dürfte wesentlich auch von dem neuen Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich beeinflußt werden. Der Außenpolitiker ist Mitglied der „Parlamentarischen Linken“ und als dienstältester Fraktionsvize der geborene Interimsvorsitzende. „Arbeitsfähig und arbeitswillig“ sei die Fraktion, versuchte er Zweifel zu zerstreuen, es drohe Stillstand unter den 152 Abgeordneten. Anders als bei der Nachfolgeregelung für den Parteivorsitz mit Fristen für Parteitage und Mitgliederentscheide war der Weg zum neuen Fraktionschef weniger kompliziert. Theoretisch hätte die Fraktion am vergangenen Dienstag gleich einen neuen Vorsitzenden wählen können. Als ernsthafter Anwärter auf den Posten gilt Achim Post, Vorsitzender der einflußreichen Landesgruppe Nordrhein-Westfalen. Der 60jährige Soziologe war bisher Nahles’ Vize, hat nie einen Hehl daraus gemacht, daß er deren schrille Auftritte („Ab morgen gibt es einen in die Fresse“) nicht schätzt. Ihrem Doppelrückzug zollte er Respekt, einen Dank verkniff er sich in seiner schriftlichen Stellungnahme. Martin Schulz, 2017 gescheiterter Kanzlerkandidat und Ex-Parteichef, erklärte, er stehe für den Fraktionsvorsitz nicht zur Verfügung; allerdings vor Nahles’ folgenschwerer Entscheidung. 

Während die SPD also Zeit gewinnen will, heißt es bei der CDU „zusammenraufen und weitermachen“. Denn die CDU-Führung ist aufgeschreckt durch eine Umfrage, die die Union nur noch knapp vor den Grünen sieht. Der Insa-Meinungstrend als erste Umfrage nach dem Rücktritt hat die Sorgen im Adenauerhaus nicht geringer werden lassen. Danach käme die CDU/CSU auf 26 Prozent, dicht gefolgt von den Grünen mit 25 Prozent (SPD 14 Prozent, AfD 13 Prozent, FDP und Linke je 8 Prozent).

CDU will bis zum Parteitag Digitalcharta erarbeiten

Ursprünglich sollte es auf der Klausurtagung am Sonntag auch um den Führungsstil der Parteivorsitzenden gehen. Aufgrund des Durcheinanders bei der SPD wurde AKK aber geschont. Bis zum Parteitag im November will die CDU eine Digitalcharta erarbeiten, hatte extra Netzexperten eingeladen, um eigene Versäumnisse etwa im Umgang mit dem Youtuber Rezo zu diskutieren. „Bei allem, was kommt: Die CDU ist vorbereitet!“, antwortete die Parteichefin auf die Frage nach Neuwahlen. 

Der Angstgegner, die Grünen, konnte aufgrund seines glänzenden Abschneidens bei den jüngsten Wahlen gelassen reagieren. Parteichefin Annalena Baerbock sprach sich gegen eine neue Koalitionsbildung ohne Neuwahlen aus. Die Grünen seien nicht „das Reserverad, das einfach so einspringt“. Bei den weiteren Oppositionsparteien hielt sich die mediale Aufmerksamkeit in Grenzen. „Diese große Koalition ist am Ende“, sagte AfD-Vorstandsmitglied Beatrix von Storch. Die SPD zahle nun den Preis für ihre falsche Migrations- und Klimapolitik. 

Linken-Chefin Katja Kipping hält ein Vorziehen der Bundestagswahl für immer wahrscheinlicher. Registriert wurde, daß die ausscheidende Fraktionschefin Sahra Wagenknecht sich in den Dienst der Partei stellt. So wird die Neuwahl des Fraktionsvorstands auf November und damit nach der Thüringen-Wahl am 27. Oktober verschoben. Anders als AfD und Linke wollte sich die FDP nicht an Spekulationen über eine Neuwahl des Bundestags beteiligen. „Der Ball liegt im Spielfeld der Großen Koalition“, meinte Generalsekretärin Linda Teuteberg.





Der Weg zur Neuwahl

Minderheitsregierung, Vertrauensfrage, Selbstauflösungsrecht des Deutschen Bundestages? Der Weg zu einer Neuwahl des Bundestages ist kompliziert. Er könnte beschritten werden, wenn die SPD die Koalition platzen läßt. In diesem Fall müßte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) handeln. Vermutlich würde sie zunächst ausloten, ob FDP und Grüne zu einer Koalition bis zum Ende der Wahlperiode 2021 bereit wären. Doch eine Jamaika-Koalition, die 2017 gescheitert war, ist äußerst unwahrscheinlich. Die Grünen sehen sich nicht als „Reserverad“, die FDP lehnt ein Bündnis unter einer Kanzlerin Merkel ab. Diese könnte dann versuchen, ihre Kanzlerschaft mit einer Minderheitsregierung fortzusetzen. Sie müßte sich bei allen Gesetzesvorhaben um Mehrheiten im Bundestag bemühen, insbesondere auch beim Haushaltsgesetz. Lehnt Merkel eine Minderheitsregierung ab und kommt ein zweiter Anlauf für Jamaika nicht zustande, dürfte sie im Bundestag nach Artikel 68 des Grundgesetzes die Vertrauensfrage stellen. Sprechen die Abgeordneten ihr mehrheitlich nicht das Vertrauen aus, kann Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier das Parlament innerhalb von 21 Tagen auflösen. Dann müssen binnen 60 Tagen Neuwahlen stattfinden. (jök)