© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/19 / 07. Juni 2019

Die Bestände sichern
Heimatvertriebene: Ihre Verbände müssen sich um das bedrohte kulturelle Erbe kümmern
Thorsten Hinz

Die Zeiten, in denen die Vertriebenen auf ihren Pfingsttreffen Fußballstadien und Marktplätze füllten und Politiker aller Parteien ihnen das Blaue vom Himmel versprachen, um ihre Wählerstimmen abzugreifen, sind lange vorbei. Der Bund der Vertriebenen (BdV) spielt seit Ende 2014, als seine streitbare Präsidentin Erika Steinbach sich aus dem Amt verabschiedete, in der Öffentlichkeit keine Rolle mehr. 

Auf der Startseite des Internet-Auftritts des BdV und auf der Titelseite des zweimonatlich erscheinenden Deutschen Ostdienstes ist der Handschlag zwischen dem amtierenden BdV-Präsidenten Bernd Fabritius und der Kanzlerin abgebildet. Fabritius gehört der CSU an. Bei den Bundestagswahlen 2017 verlor er sein Abgeordnetenmandat und wurde daraufhin zum Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten ernannt. In Interviews erweckt er den Eindruck, daß seine Hauptaufgabe darin besteht, die rußlanddeutschen Aussiedler als letzte kompakte Vertriebenen-Klientel davon zu überzeugen, Union statt AfD zu wählen. 

Auf dem diesjährigen Jahresempfang des BdV am 9. April, bei dem auch die Kanzlerin anwesend war, sagte er: „Unsere Arbeit ist gesellschaftlich relevant, weil wir über unsere Verbände und deren Akteure in der Mitte der Vereine, der Kommunen, der Kirchengemeinden und der wohltätigen Organisationen im Sinne und im Dienste der Zivilgesellschaft wirken!“

Die Wirklichkeit sieht anders aus. Fast am gleichen Tag löste sich in der Stadt Rathenow westlich von Berlin der BdV-Gebietsverband auf. Der Beschluß wurde von den anwesenden 25 Mitgliedern einstimmig gefaßt. 1990 gegründet, hatte er zeitweilig bis zu 300 Mitglieder gezählt. Offizielle Vertreter waren nicht anwesend, der CDU-Bürgermeister übermittelte schriftlich ein Grußwort. Die 500 Euro auf dem Vereinskonto wurden an das Zentrum gegen Vertreibung überwiesen, die Unterlagen kommen ins Stadtarchiv.

Kreis- und Ortsverbände werden liquidiert

Die Liquidation in Rathenow steht für eine allgemeine Entwicklung. Sie betrifft BdV-Kreis- und Ortsverbände in den alten und neuen Ländern, so in Amberg, Braunschweig, Ellwangen, Mülheim an der Ruhr, Pasewalk oder Verden. Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Die Gründe sind immer die gleichen: Mitglieder ziehen sich zurück, scheiden aus, weil sie krank, überaltert, gestorben sind, Nachwuchs ist nicht in Sicht. Eine Organisation, deren Gründungszweck geschichtlich geworden ist, zieht sich aus der Fläche zurück. Höchstens die Lokalpresse nimmt davon Notiz.

Kommen Selbstüberschätzung und professionelles Ungeschick hinzu, geraten auch Zentralverbände in den Abwärtssog. Die Pommersche Landsmannschaft, die in den letzten 20 Jahren mehrere Rücktritte und Vakanzen in der Führung zu verkraften hatte, ist seit dem Verlust des Pommernzentrums in Lübeck-Travemünde und der Einstellung der Pommerschen Zeitung als  öffentliche Organisation praktisch nicht mehr vorhanden. („Im finalen Stadium“, JF 3/18) Nicht einmal einen Internet-Auftritt bringt sie mehr zustande. Als einzige Kontaktmöglichkeit dient die Privatanschrift der 82jährigen Präsidentin. Es ist von einiger Symbolik, daß das Hauptgebäude des ehemaligen Zentrums von einer türkischen Event-Agentur übernommen wurde, die Festivitäten im Stile von Tausendundeiner Nacht ausrichtet.

Vertriebenenarchive befinden sich in Auflösung

74 Jahre nach Kriegsende ist vieles davon unvermeidlich. Die letzte bewußte Erlebnisgeneration tritt altersbedingt ab. Unerledigt aber sind die Archivalien, Dokumente, Erinnerungstücke, Fluchtberichte, Sammlungen, die in Heimatstuben und Heimatkreisarchiven lagern. Sie waren den ostdeutschen Heimatkreisen von ihren westdeutschen Patenstädten einst zur Verfügung gestellt worden und bildeten über die Jahrzehnte einen Treff-, Sammel- und ideellen Bezugspunkt. Im allgemeinen Auflösungsprozeß verlieren sie ihren Sinn und befinden sich ebenfalls längst in Auflösung.

In dieser Situation ist es um so bedauerlicher, daß auch bei den zentralen Kultureinrichtungen der Vertriebenen der schleichende Tod umgeht. So hat die Stiftung Ostdeutscher Kulturrat (seit 2008 „Stiftung Deutsche Kultur im östlichen Europa – OKR“), die 1950 als bildungspolitische Einrichtung gegründet wurde, Ende April 2019 still und leise ihre Tätigkeit eingestellt. In der „Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen“ in Bonn arbeitet nur noch eine Fachkraft; beim Kulturwerk Schlesien in Würzburg sind es vorläufig noch zwei. 

Der Abstieg begann spätestens im Jahr 2000, als der banausenhafte Kulturstaatssekretär Michael Naumann (SPD) die Förderung für alle Kultur-institutionen der Vertriebenen strich. Es ging Naumann nicht etwa um die Straffung oder Zusammenlegung von Parallelstrukturen und eine Neuausrichtung der Aufgaben – denkbar wäre die Erfassung und zentrale Zusammenlegung ostdeutschen Archivgutes gewesen –, sondern um den ideologischen Kehraus. Der OKR, der unter anderem 1989 das Buch „Ostdeutsches Kulturgut in der Bundesrepublik Deutschland. Ein Handbuch der Sammlungen, Vereinigungen und Einrichtungen mit ihren Beständen“ herausgegeben hatte, konnte seinen Betrieb nur aufgrund von Stiftungsvermögen noch fast 20 Jahre aufrechterhalten.

Glücklicherweise erstellt das Seminar für Europäische Ethnologie/Volkskunde der Christian-Albrechts-Universität in Kiel in Kooperation mit dem Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa in Oldenburg eine Dokumentation der Heimatsammlungen in Deutschland, die im Internet einsehbar ist. Daraus ergibt sich, daß es keine einheitliche Strategie für den Umgang mit den Exponaten und den Heimatkreisarchiven gibt. Einige werden an geeignete Museen und Institute übergeben, andere werden privat verwaltet, verschwinden einfach oder gehen in die Ursprungsorte, die heute jenseits der Grenze liegen.

Das Heimatkreisarchiv Marienburg wurde Anfang 2018 von Hamburg an dem neu eröffneten Stadtmuseum Malbork übereignet. Das komplette Archiv der Memelländer befindet sich seit 2011 in Litauen; in Deutschland gab es dafür keine Räumlichkeiten mehr. Das Interesse der Polen und Litauer ist erfreulich, doch wirken solche Aktionen improvisiert, unkoordiniert und unprofessionell und bedeuten einen kulturellen Verlust.

Aussichstlose Kämpfe gegen den feindlichen Zeitgeist

Und es geht noch schlimmer: 2015 wurde das Ostheim in Bad Pyrmont, eine Einrichtung der Landsmannschaft Ostpreußen, abgewickelt. Die in jahrzehntelanger Arbeit zusammengetragene Bibliothek wurde auf dem Flohmarkt verramscht. In Siegen befand sich von 1972 bis 2012 die Bibliothek „Johann G. Herder Bibliothek Siegerland“, die ungefähr 32.000 Bücher und Zeitschriften umfaßte. Nachdem ihr die Räumlichkeiten gekündigt worden waren, übernahm die Bibliothek der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) genau 4.089 Bände, vornehmlich Literatur über die einstigen deutschen Ostgebiete. Der ganze große Rest samt gebundenen Jahrgängen der Pommerschen Zeitung, des Schlesiers, des Ostpreußenblatts und anderen Zeitungen, des weiteren Regale, Schränke, Karten landete in der Papiermühle und im Sperrmüll.

Trotz musealer Leuchttürme, wie sie in Görlitz, Greifswald oder Lüneburg errichtet worden sind, haben Bund und Länder dem Kulturerbe der Vertreibungsgebiete nie die angemessene Zuwendung geschenkt. Doch auch die Landsmannschaften und ihr Dachverband haben Fehler begangen. Statt sich auf das Machbare zu konzentrieren, das Haus zu bestellen und die Bestände unter Dach und Fach zu bringen, haben sie aussichtslose Abwehrkämpfe gegen den zunehmend feindlichen Zeitgeist geführt.

Völlig falsch eingeschätzt wurde der Effekt der Wiedervereinigung. Sie brachte für die Vertriebenenorganisationen keinen politischen Aufbruch, sondern das faktische Ende ihres politischen Mandats. Die Grenzfrage war nun endgültig abgehakt, die Eingliederung ohnehin abgeschlossen. Die Vertriebenen in der Ex-DDR waren glücklich, daß sie ihre Herkunft nicht mehr verleugnen mußten, doch mit den 4.000 D-Mark, die sie als symbolische Entschädigung erhielten, hatten sich ihre praktischen und materiellen Erwartungen ebenfalls erfüllt. Der Vorschlag, den die Grünen-Politikerin Antje Vollmer vor 20 Jahren machte, den BdV in einen Kultur- und Geschichtsverein umzuwandeln, war aus heutiger Sicht nicht der schlechteste. Vielleicht hätten Bund und Länder im Gegenzug die Transformation sogar finanziell und organisatorisch begleitet.

Es hat ja etwas Rührendes, wenn zum Beispiel ein „Pommerscher Kreis- und Städtetag“ weiter unverdrossen in Hinterpommern „verständigungspolitische Tagungen“ abhält, deren Hauptpunkt im „gemütlichem Beisammensein“ besteht. Ihre Relevanz für die Öffentlichkeit liegt bei Null. Es ist die letzte große Aufgabe der Vertriebenenorganisationen zu verhindern, daß ihr angesammeltes kulturelles, archivalisches, bibliophiles Erbe – zu dem auch private Nachlässe zählen – gänzlich verstreut, verschleudert oder vernichtet wird. Ihr sollten sie ihre ganze verbliebene Kraft widmen.