© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/19 / 07. Juni 2019

Empfangen wie ein Messias
Der Staatsbesuch Michail Gorbatschows in Bonn im Juni 1989 geriet zum Triumphzug des sowjetischen Staats- und Parteichefs
Michael Dienstbier

Zwei große Staatenlenker stehen gemeinsam am Fluß und planen im Angesicht dieser mythischen Urgewalt die Zukunft Deutschlands und Europas – so zumindest erinnert sich Helmut Kohl in seinen Memoiren an den viertägigen Deutschlandbesuch Michail Gorbatschows vom 12. bis zum 15. Juni 1989: „Aber so sicher, wie der Rhein zum Meer fließt, so sicher wird die deutsche Einheit kommen – und auch die europäische Einheit“, will der 2017 verstorbene ehemalige Bundeskanzler damals zu Gorbatschow gesagt haben, der wiederum nicht widersprochen habe. Begann Kohl also bereits fünf Monate vor dem Mauerfall mit der Organisation der Wiedervereinigung der deutschen Nation? Mitnichten, neigen doch sämtliche Autobiographen dazu, einzelne Momente ihres Handelns auszuschmücken und aus der Retrospektive prophetische Wirkungsmacht zuzuschreiben. Dennoch war dieser Besuch bereits für die Zeitgenossen mehr als nur politisch-diplomatisches Alltagsgeschäft, was nicht zuletzt in den euphorischen Reaktionen der Deutschen sicht- und vor allem hörbar wurde.

Ökonomische Stabilisierung der Sowjetunion als Ziel

Zwei Wochen zuvor besuchte der US-amerikanische Präsident George Bush Deutschland und lobte die gute Zusammenarbeit der beiden Länder. Massen auf den Straßen, die wie in Ekstase „Bush, Bush“ skandierten? Fehlanzeige. Gorbatschow hingegen wurde empfangen wie ein Messias: Bonn, Stuttgart, Dortmund – überall erwarteten ihn Zehntausende Menschen, die in „Gorbi, Gorbi“-Sprechchöre verfielen, sobald sie ihn sahen – die Geburtsstunde der „Gorbimania“.

Daß Gorbatschow, seit 1985 Generalsekretär der KPdSU, zur Projektionsfläche gesamtdeutscher Hoffnungen werden sollte, war nicht unbedingt zu erwarten. Noch 1986 verglich ihn Kohl in einem Interview mit Joseph Goebbels, was zu einem neuen Tiefpunkt in den deutsch-sowjetischen Beziehungen führte. Doch schon bald zeigte sich, daß Gorbatschows Politik von Glasnost und Perestroika – Offenheit und Umgestaltung – tatsächlich ernst gemeint war. Dabei sah man gnädig darüber hinweg, daß er mit seinen Reformen nicht den Kalten Krieg beenden, sondern die ökonomisch dem Bankrott entgegentaumelnde Sowjetunion stabilisieren wollte. Viel mehr noch war es Gorbatschows neue Direktive, den Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktes mehr Freiheiten bei der Gestaltung ihrer inneren Angelegenheiten zu lassen, die ihn zum Hoffnungsträger werden ließ: „Sinatra“- statt „Breschnew-Doktrin“, inspiriert durch den Klassiker „My Way“ des amerikanischen Entertainers Frank Sinatra.

Es war nicht der Spaziergang am Rhein, der Gorbatschow von einer Sekunde auf die andere dazu brachte, seine Politik zu ändern. Die wesentlichen Entscheidungen waren alle vorher getroffen worden und dienten einzig und allein dem Ziel der ökonomisch-politischen Stabilisierung der Sowjetunion. Daß er dafür im Ausland wie ein Popstar empfangen wurde, war für ihn innenpolitisch alles andere als ein Grund zur Freude. Die wirtschaftliche Lage war unverändert schlecht, und wenige Monate zuvor mußte sich die Sowjetarmee nach zehn Jahren Krieg gedemütigt aus Afghanistan zurückziehen – da war die „Gorbi, Gorbi“-Ekstase beim Klassenfeind Wasser auf die Mühlen seiner innerparteilichen Gegner. Auch beim russischen Volk gilt Gorbatschow bis heute nicht als großer Modernisierer, sondern als Totengräber eines einstmals großen Imperiums. Bei den Präsidentschaftswahlen 1996 erhielt er ganze 0,5 Prozent der Stimmen.

Zum Nutzen späterer Zwei-plus-Vier-Verhandlungen

Der Juni-Besuch 1989 markierte nicht den Beginn von etwas Neuem; vielmehr wirkte er wie ein Katalysator für etwas, was schon längst im Gange war. Die Bilder aus Westdeutschland ermutigten die Menschen in der DDR, ihre Proteste gegen die gefälschten Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989 fortzusetzen und zu intensivieren. Des weiteren dürfte das durch den Besuch sich weiter verbessernde persönliche Verhältnis zwischen Kohl und Gorbatschow den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen nach dem Mauerfall zumindest nicht abträglich gewesen sein. Was bleibt, sind bis heute beeindruckende Bilder einer Momentaufnahme in Zeiten eines sich anbahnenden Epochenwechsels.