© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/19 / 07. Juni 2019

Der Flaneur
Kommst du zum Mittag?
Paul Leonhard

Ein schriller Ton zerfetzt den Traum. Verschlafen taste ich nach dem Telefon. Ob ich Lust habe, zum Frühstück vorbeizukommen? Es ist halb acht. Sonntag morgen! Andererseits, Freundschaften soll man pflegen. „Gute Idee“, quetsche ich zwischen meinen Lippen hervor. „Was soll ich mitbringen?“

Von den empfohlenen Bäckern hat der eine sonntags geschlossen und den anderen finde ich nicht. Eine Runde nach der anderen drehe ich durch den mir fremden Stadtteil. Endlich entdecke ich nicht nur eine Bäckerei, sondern eine „Backfabrik“.

Zwei Hungrige geben Bestellungen auf, die ein Mehrfamilienhaus sättigen könnten.

Zufrieden reihe ich mich vor der Tür in die Schlange. Fünf Minuten Wartezeit schätze ich. Schon drei Minuten später stehe ich fast am Tresen, wo zwei Verkäuferinnen die Wünsche abarbeiten, und erschrecke: Die Schlange zieht sich tief in den Laden bis in die Caféecke, beschreibt einen Bogen und kommt zurück. 35 meist männliche Personen zähle ich vor mir. Zudem geht es seit ein paar Minuten nicht mehr voran. Zwei sehr Hungrige geben Bestellungen auf, die die Bewohner eines Mehrfamilienhauses sättigen könnten. Selbst die Verkäuferin kommt ob all der Kürbis-, Mohn-, Dinkel- und Wasweißich-Brötchen durcheinander. Es könnte länger dauern.

Der Kunde reicht eine Kreditkarte rüber. Auch die nächsten bezahlen elektronisch. Vielleicht wird hier ausschließlich mit „Plastikgeld“ bezahlt, sinniere ich und versuche die Geheimzahl meiner neuen Mastercard zu erinnern. Mir fällt nur die der alten ein. Soll ich lieber einen anderen Bäcker suchen? Aber da höre ich Kleingeld klimpern. 

Langsam schiebt sich die Schlange weiter. Die meisten Wartenden halten den Kopf gesenkt, den Blick fest auf ihre Smartphones gerichtet. Lesen die Neuigkeiten aus aller Welt? Nein, der Typ mit grauem Pferdeschanz und Baskenmütze spielt Solitär. Der nächste daddelt. Der vor mir ruft tatsächlich Nachrichten ab. Meins vibriert dafür: eine SMS. Ob ich noch frühstücken wolle oder erst zum Mittagessen erscheine.