© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/19 / 14. Juni 2019

Überholen ohne einzuholen
30 Jahre deutsche Einheit: Ohne Großunternehmen wird der Osten nie Westniveau erreichen / Digitalisierung bietet neue Chancen
Paul Leonhard

Blühende Landschaften gibt es im Osten, aber nicht diejenigen, die Helmut Kohl vorschwebten, als er diese inzwischen zum geflügelten Wort gewordene Zukunftsvision kundgab, sondern eher im Sinne des Findlingsparks Nochten in Ostsachsen, der in jedem Frühjahr farbenprächtig aufblüht. Hier wurde aus einer Bergbaufolgelandschaft ein einzigartiger Park mit rund 7.000 Findlingen, die jährlich mehr als 100.000 Neugierige besuchen.

Die einstige Teilung ist weiter erkennbar

Richtiges Geld verdient wird aber in den benachbarten Braunkohlegruben und Kraftwerken. Der von der Bundesregierung angeordnete Kohleausstieg ist für die betroffenen Regionen in Sachsen, Brandenburg und Sachsen-Anhalt besonders hart. Zumal es zwar eine finanzielle Kompensation in Milliardenhöhe, aber kein überzeugendes Konzept für die wirtschaftliche Zukunft gibt (JF 24/19). Und wie schnell das Geld versickern kann, zeigt derzeit der Landkreis Görlitz, der sich aus dem Kohlefonds mal schnell für 50 Millionen Euro ein neues Verwaltungsgebäude bauen will.

Obwohl sich Deutschland seit dem Mauerfall gut entwickelt hat, seien die Unterschiede zwischen den Regionen weiter erheblich, heißt es in einer Studie des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH): „Ob Wirtschaftsleistung, Löhne, Zuwanderung oder Bildung – in vielerlei Hinsicht zeichnen die regionalen Muster nach wie vor die einstige Teilung zwischen DDR und alter Bundesrepublik nach.“

Hauptgrund ist, daß 464 der 500 größten deutschen Firmen ihren Sitz im Westen haben und damit dort Steuern zahlen. Die Bundesregierungen haben sich auch gescheut, Behörden in nennenswerter Zahl in den Osten zu verlagern, als auch Großkonzerne zu ermuntern, sich in den neuen Ländern anzusiedeln oder gar Brüssel beim Wort zu nehmen und im Grenzgebiet zu Tschechien und Polen eine Behörde einzurichten, die sich beispielsweise dem europäischen Zusammenwachsen widmet. Es wurde in 30 Jahren nicht einmal der Versuch gestartet, den Sitz eines staatseigenen Konzerns wie der Bahn in eines der neuen Länder zu verlagern.

Da die Produktivität oft mit der Betriebsgröße steigt, sei im Osten eine geringere Produktivität zu verzeichnen, konstatiert das IWH-Papier. Dazu komme, daß die dortigen Betriebe in jeder Größenklasse eine mindestens 20 Prozent niedrigere Produktivität ausweisen. Die Potentiale für Produktivitätssteigerungen könnten nicht ausgeschöpft werden, da die Unternehmer durch fehlendes Eigenkapital auf staatliche Subventionen angewiesen, diese aber an Arbeitsplatzgarantien geknüpft seien.

Wenn sich die Wirtschaftskraft in Ost und West weiter annähern solle, müßten die Städte gestärkt werden, denn diese seien die zentralen Orte von Forschung, Innovation und Wertschöpfung – und damit für Wohlstand. Die sinkende Arbeitslosenquote und die steigende Attraktivität von Berlin, Dresden oder Leipzig würden zu einer positiven Gehaltsentwicklung beitragen, bestätigt auch Philip Bierbach, Geschäftsführer des Jobportals Gehalt.de.

Hat Sachsen seit 1990 mit seiner Leuchtturmpolitik Erfolg gehabt, indem es vor allem in die drei Zentren Dresden, Leipzig und Chemnitz investiert hat, will Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) diese Politik umkehren und in die Infrastruktur der ländlichen Regionen investieren. Eine Politik, vor der das Institut der deutschen Wirtschaft warnt: Wenn auf absehbare Zeit selbst in den Regionen mit viel mittelständischer Industrie Fachkräfte fehlen, erscheine die Industriealisierung weiterer Gebiete sinnlos. IWH-Präsident Reint Gropp ist überzeugt, daß „das Bestehen auf gleichwertigen Lebensverhältnissen in die Irre geführt“ hat. Gleichwertige Lebensverhältnisse herzustellen, sei eine „herausragende Aufgabe“, betonte dagegen Anfang des Jahres Angela Merkel. Ihren Landsleuten warf sie vor, zu lange akzeptiert zu haben, „weniger als Westdeutsche zu verdienen“, was insbesondere die Gewerkschaften gern hörten.

Aus Sicht Kretschmers ist die IWH-Studie ohnehin „absolut unseriös“ und „dasselbe Gebrabbel, wie wir es die letzten Jahrzehnte gehört haben“. Die Grenzen des Wachstums in Ballungszentren seien längst erreicht, so Kretschmer im Spiegel. Der Ministerpräsident interessiere sich nicht dafür, wie Sachsen für Westdeutsche und EU-Einwanderer attraktiver gemacht werden könne, sondern wolle die „ländliche Bevölkerung glücklich machen, aus Angst, daß sie AfD wählt“, kontert IWH-Chef Gropp im Gespräch mit der Sächsischen Zeitung: „Das hat schon eine Logik, aber ist die falsche Strategie.“

Immerhin bestätigen die Ökonomen Sachsen und Thüringen, vieles richtig gemacht zu haben: Firmen in Schlüsselbranchen wie dem Auto- und Maschinenbau oder der Elektroindustrie seien in hohem Maße in globale Wertschöpfungsketten integriert. Diese Branchen würden auch künftig Wachstumsmotoren bleiben, weil ihr Geschäft stärker als das anderer Wirtschaftszweige von internationalem Handel, der wachsenden Mittelschicht in den Schwellenländern sowie der verstärkten Automatisierung und Digitalisierung angetrieben wird.

IWH-Studie „Vereintes Land – drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall“:  iwh-halle.de/