© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/19 / 14. Juni 2019

Zwischen alter und neuer Welt
Literatur: Neuerscheinungen zu Theodor Fontane, dem Seismographen der ersten Globalisierung
Wolfgang Müller

Ein bißchen Denkmalsturz muß selbst im Jubiläumsjahr sein. Während zum 200. Geburtstag Ende Dezember dieses Jahres gerade die lokalpatriotisch unterfütterte Berlin-Brandenburgische Vermarktung Theodor Fontanes auf Hochtouren läuft, präsentieren Literaturwissenschaftler die „dunkle Seite“ des 1819 in Neuruppin geborenen Dichters, der ein „Antisemit“ gewesen sei. Und ein wenig auch ein Hochstapler, denn das Werk, dem er zwar nicht sein künstlerisches Ansehen, aber doch seine Volkstümlichkeit verdankt, seine „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“, sind nicht erlaufen, sondern „erfahren“. Wozu sich der Autor allerdings stets freimütig bekannt hat: „Das Beste ist fahren.“ 

Zu Fuß, dies dokumentieren die vier Bände seiner Mixtur aus Reiseführer und literarischer Kulturgeschichte, legt er daher selten mehr als fünf Kilometer zurück. Fontane erwandert die Mark nicht, er reist aus Berlin mit der Eisenbahn in sein jeweiliges Zielgebiet zwischen Havel und Oder, besteigt dort angekommen eine Kutsche, steuert die Sehenswürdigkeiten an, Schloß, Gut, Kirche, spaziert zu seinen heimatkundlichen Gewährsmännern, Pastor und Lehrer, und findet, dank der Empfehlungen der Adelsfreundin Mathilde von Rohr, Zutritt in manches Herrenhaus. Danach ist die „Wanderung“ genannte Landpartie des notorischen Großstädters zu Ende.

Für den Potsdamer Kulturhistoriker Iwan-Michelangelo d’Aprile ist diese von den Anfängen des Massentourismus kündende Form des Reisens nur ein Aspekt seiner Biographie, die Fontane als den preußischen Chronisten der industriellen Moderne, der ersten, in den 1850ern einsetzenden, vom Weltkriegsausbruch 1914 abgeschlossenen ersten Globalisierung vorstellen will. Das gelingt ihm nur unvollkommen. Denn einerseits entdeckt er in mancherlei Hinsicht den Südpol ein zweites Mal, da ihm, wie Amundsen Scott, sein Konstanzer Kollege Gerhart von Graevenitz 2014 mit einem 800seitigen Opus über Fontane und „die ängstliche Moderne“, inzwischen einem Standardwerk zum Thema, zuvorgekommen ist (JF 10/16). Mit dessen Resultaten sich D’Aprile jedoch verblüffenderweise nirgends auseinandersetzt.

Andererseits beschäftigt sich das erste Drittel der stattlichen Untersuchung mit dem kürzlich von Regina Dieterle so akribisch rekonstruierten Lebensweg des im ungeliebten Apothekerberuf gefangenen Vormärz-Fontane (JF 2/19). Mit dem Teil der Vita, der von den modernen Zeiten der Industrialisierung sehr wenig, vom späteren „Klassiker des bürgerlichen Realismus“, der deren Auswirkungen auf die semiabsolutistische preußische Agrargesellschaft wie ein Seismograph aufzeichnen wird, noch gar nichts erkennen läßt. 

Ihm begegnet der Leser erst im zweiten, dem Journalisten Fontane gewidmeten Kapitel, das endlich wie angekündigt Epochenportrait und Dichterbiographie verklammert. Nach 1848, als der gescheiterte Barrikadenstürmer sich für zwei Jahrzehnte als Nachrichtenkrieger beim preußischen Regierungspressebüro, dem Vorläufer des spätbundesrepublikanischen Leitmedienkartells, und anschließend als „angestellter Scriblifax“ bei der hochkonservativen Kreuzzeitung verdingen mußte, geriet Fontane, nicht zuletzt dank eines im amtlichen Auftrag absolvierten dreijährigen London-Aufenthalts, mitten hinein in das Getriebe der Industrie-, Eisenbahn-, Telegraphen- und Schnellpressenkultur. Die sich im Gefolge des den Kontinentaleuropäern voranschreitenden britischen Kolonialismus und Imperialismus global vernetzte. Kein anderer deutscher Schriftsteller seiner Generation konnte es nach solcher „Stoff-Einsaugung“ mit Fontanes Welterfahrung und der Weite seines politischen Horizonts aufnehmen. 

Was nicht ohne Konsequenzen für die literarische Produktion blieb. Aufgrund solcher Prägungen, so D’Aprile, sollte man Abschied nehmen von der üblichen Idealisierung des Autors als zeitfernes „schöpferisches Genie“. Fontanes Bücher entwickelten sich aus journalistischen Texten, entsprangen aus Redaktions- oder Verlagsaufträgen und waren paßgenau auf Marktbedürfnisse zugeschnitten. Die „Wanderungen“ wie auch die umfangreichen Kriegsbücher zu 1864, 1866 und 1870/71, sind weitgehend Kompilationen. Zusammengestellt aus Material, das ihm ein Heer von Informanten anlieferte und das er mit Exzerpten aus Lexika, Statistiken, Handbüchern kräftig aufpumpte. Als ein mit Textbausteinen virtuos hantierender, in der Technik der Collage versierter Journalist erschloß sich Fontane das innovative Methodenarsenal, das er benötigte, um eine unübersichtliche und vielschichtige Realität literarisch adäquat abzubilden. Hier übte er ein, was die Komposition des erst während des siebenten Lebensjahrzehnts begonnenen Romanwerks auszeichnet, ihre „Vielstimmigkeit“. 

Auf die Grunderfahrung der von der industriellen Revolution erschütterten Gesellschaften des 19. Jahrhunderts, daß die religiös und metaphysisch obdachlose, tendenziell chaotische, fließende menschliche Existenz sich niemals zum physisch und psychisch durchlaufend stimmigen Kontinuum verfestigt und schwer auf „Sinn“ zu reduzieren ist, antwortet Fontanes Prosakunst mit dem Bemühen, diese Pluralität von neuen Lebensformen, Normen, Werten und Weltbildern kritisch zu reproduzieren.

Jeder seiner handlungsarmen Romane, in denen zumeist kaum mehr „geschieht“, als daß, wie im „Stechlin“, zwei Junge heiraten und ein Alter stirbt, zeichnet daher viele Stimmen auf, besteht aus vielen Figuren und fächert ein breites Spektrum sozialer Redevielfalt auf. Dieser ein Maximum der Denk- und Lebensformen, Mentalitäten, Ideologien, Diskurse wiedergebende polyphone Sprachrealismus ist aber nicht mehr das Thema D’Apriles, den nicht zu interessieren scheint, welchen Zwecken der Autor Fontane die Modernität solcher Mittel dienstbar macht. 

Wer das erfahren will, greife zu Norbert Mecklenburgs analytisch weitaus ambitionierterer Studie „Realismus, Redevielfalt, Ressentiment“. Es handelt sich um die erheblich erweiterte Neuauflage eines Buches, mit dem dieser Veteran der Fontane-Forschung vor zwanzig Jahren auf den Plan trat. Zur schnellen Orientierung taugt das philologisch dicke Bretter bohrende Werk zwar nicht, aber wer die Geduld aufbringt, zumindest einige der etwas umständlichen und gemächlich auf scheinbaren Umwegen wandelnden Exegesen auch zweimal zu lesen, dem wird das Werk zum unentbehrlichen Wegweiser durch ein schier unendliches Prosauniversum. 

Den emeritierten Kölner Germanisten leitet dabei die Frage nach Bedingungen der „ewigen“ Gegenwärtigkeit des Autors: „Warum ist Fontane als Erzähler des späten 19. Jahrhunderts noch im frühen 21. lesbar und lesenswert?“ Weil er bis heute erkenntnisfördernde Einsichten über lebenspraktisch relevante, auch in der Epoche der zweiten Globalisierung unverändert aktuelle Konfliktkonstellationen vermittelt, allen voran Einsichten in die Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft und Antworten auf die Frage nach den politischen, ökonomischen und kulturellen Voraussetzungen friedlichen Zusammenlebens.

Um darüber aufzuklären, so Mecklenburgs These, entfaltet die Gesellschaftsdiagnostik von Fontanes Romanen alle Facetten des Gegensatzes – mit Adorno zu reden – von falschem und richtigem Leben. Nur, dies ist die zweite These, ist Fontane anders als etwa sein fast gleichaltriger französischer „Kollege“ Gustave Flaubert („Madame Bovary“) nicht bereit, die bürgerliche Gesellschaft als „Struktur der Uneigentlichkeit“ gnadenlos zu denunzieren. Von Fontanes Romankunst führt daher kein Weg zu dem von Kafka bis Beckett gesungenen nihilistischen Mantra vom Tod des Subjekts, von unheilbar beschädigter Individualität, Selbstentfremdung und Autonomieverlust. Obwohl auch sein von Orientierungskrisen des Modernisierungsprozesses arg gebeuteltes Personal, das weibliche zumal („Effi Briest“), mit  suizidalen Impulsen oder schweren psychosomatischen Störungen die hohen Kosten der Zurichtung des Menschen im kapitalistischen „Gestell“ (Martin Heidegger) verkörpere, verabsolutiere Fontane sie nicht. Das Individuum ist zwar sozialen Zwängen unterworfen, aber es bleiben ihm, solange das Herrschaftssystem liberale Reservate gewährt und offen ist für die Pluralität von Weltentwürfen, Handlungsspielräume zur Selbstverwirklichung. Ob die sich vielleicht ausweiten lassen, ob sich der Leser dazu „antitotalitär“ erziehen läßt, politischen oder religiösen Heilsversprechen zu mißtrauen, Widersprüche auszuhalten, die Welt als Pluriversum zu ertragen? Auch darüber nachzudenken, regen die Romane des „skeptischen Fortschrittsmelancholikers“ aus dem gar nicht so fernen deutschen Kaiserreich an.

1998, im Gedenkjahr zum 100. Todestag, fiel der Startschuß zur „Aufarbeitung“ von Fontanes „Antisemitismus“. Daran beteiligte sich auch Mecklenburg, der einschlägige Aufsätze hier in fünf Kapiteln über „Fontane und die Juden“ zusammenfaßt. Mehr als das gut geölte Ritual, das hochkomplexe Problem auf dem niedrigen ahistorischen Niveau von „Vorurteil“ und „Stereotyp“ zu versimpeln, ist jedoch auch bei ihm nicht herausgekommen, so daß man in diesen schwächsten Partien der Arbeit nur Banales erfährt, daß nämlich Fontane einige Juden sehr geschätzt, andere nicht gemocht hat. Daß er der Ansicht war, es gebe sympathische und unsympathische Juden, genau wie es sympathische und extrem unsympathische Deutsche gibt.

Wenden sich die Werke von D’Aprile und Mecklenburg letztlich an ein Fachpublikum, bietet Hans Dieter Zimmermanns Biographie des „Romanciers Preußens“ das ideale Geschenk für Liebhaber. Unterlegt mit leiser nostalgischer Hintergrundmusik, vergegenwärtigt der sich souverän auf der Höhe der Forschung bewegende, sie aber nur dezent einträufelnde Berliner Literaturwissenschaftler die versunkende preußische „Welt von gestern“. Deren kritisches Potential er allerdings, stets im vermeintlich harmlosen Plauderton Fontanes vortragend und alles andere als antiquarisch gestimmt, als Kontrastbild zur abschreckenden „Vulgarität“ und Kulturferne speziell der Berliner Gegenwart freisetzt. So zwischen das Alte und Neue gestellt, lautet daher das Fazit, entschiede er sich „ohne das Zögern für das Alte“. Die meisten der von ihm direkt angesprochenen Leser im Reservat des „Dahlemer Bürgertums“ dürften ihm darin wohl zustimmen. 

Das Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte (HBPG) in Potsdam (Kutschstall, Am Neuen Markt 9) zeigt bis zum 30. Dezember täglich außer montags von 10 bis 17 Uhr, Fr.–So. bis 18 Uhr, die Ausstellung „fontane.200/Brandenburg – Bilder und Geschichten“. Das Begleitbuch mit 200 Seiten und 150 Abbildungen kostet 28 Euro.

 www.hbpg.de

Iwan-Michelangelo D’Aprile: Fontane. Ein Jahrhundert in Bewegung. Rowohlt, Reinbek 2018, gebunden, 544 Seiten, Abbildungen, 28 Euro

Norbert Mecklenburg: Theodor Fontane. Realismus, Redevielfalt, Ressentiment. Verlag J. B. Metzler, Stuttgart 2018, gebunden, 313 Seiten, 39,99 Euro 

Hans Dieter Zimmermann: Theodor Fontane. Der Romancier Preußens, C. H. Beck, München 2019, 458 Seiten, gebunden, Abbildungen, 28 Euro