© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/19 / 14. Juni 2019

Nur die Nachkommen von Menschenhändlern
Schräge Begleitmusik für den „Großen Austausch“: Geographen sehen die „weiße Mehrheitsgesellschaft“ in der Pflicht, die „deutsche Kolonialschuld“ mit mehr Multikulturalität zu heilen
Wolfgang Müller

Mit der Kapitulation der „Schutztruppe“ des Generals Paul von Lettow-Vorbeck, im November 1918 in den Wäldern Ostafrikas, endete vor gut hundert Jahren die kurze Geschichte des deutschen Kolonialismus. Aus dem kollektiven Gedächtnis der alten Bundesrepublik war dieses Unterkapitel wilhelminischer Anstrengungen, sich mit reichlicher Verspätung im Kreis west- und südeuropäischer Mächte einen bescheidenen „Platz an der Sonne“ zu sichern, bis zur Wiedervereinigung fast verschwunden. In der Berliner Republik erlebt es seit zwanzig Jahren hingegen eine so sagenhafte wie auf den ersten Blick rätselhafte Rückkehr ins Zentrum geschichtspolitischer Diskurse. 

Warum das so ist, darüber gibt das Dutzend der Autoren, die sich im Schwerpunktheft „Deutscher Kolonialismus. Afrika – Imperialismus –Globaler Süden“ der Geographischen Rundschau (5/2019) zum Thema einlassen mehr unfreiwillig und zwischen den Zeilen Auskunft. Denn aus der bloßen Mixtur der Beiträge erschließt sich nicht, warum deutsche Kolonialgeschichte jetzt Konjunktur hat. Ist doch nichts darunter, was heute noch überrascht. Nicht die, soweit sie den Kontext der Globalisierung des 19. Jahrhunderts berührt, weitgehend korrekte historische Skizze aus der Feder der in ihrem Fach auf Politische Ökologie sowie Landnutzungskonflikte konzentrierten Geographin Sybille Bauriedl (Europa-Universität Flensburg), noch die von ihr und der „Künstlerin“ und „antirassistischen Aktivistin“ Hannimari Jokinen verfaßte Polemik über „Hamburg – Metropole des deutschen Kolonialismus“ oder Julia Lossaus (Uni Bremen) unbeholfen-süffisante Anmerkungen über die „Ehrbaren Kaufleute“ und deren „koloniales Erbe in der Hafen- und Hansestadt Bremen“. 

Stets geht es um die Anklage der „imperialistischen Ausbeutung“ Afrikas, um deutsche Schuld an der Versklavung von Schwarzafrikanern, und unvermeidbar in diesem Potpourri, um die Eskalation des „Herrschaftshandelns“ und „kolonialer Landnahme“ in Richtung „Völkermord“, der sich für Detlef Müller-Mahn und Johannes Dittmann vom Geographischen Institut der Universität Bonn bei der Niederschlagung von Aufständen der Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika (1904–1907) realisiert habe.

Westlicher Wohlstand dank kolonialer Gewaltherrschaft

Daß die Geographie als ein nach 1870 expandierendes Universitätsfach ihren besetzungspolitischen Aufschwung der steigenden Nachfrage nach praktisch, kartographisch, geophysikalisch, anthropogeographisch relevantem Expertenwissen im kolonialen Neuland verdankte, ist wissenschaftshistorisch mittlerweile ebenfalls eine Binsenweisheit, wird aber hier am Beispiel der Erstbesteigung des Kilimandscharo (1889) durch den Leipziger Geographen Hans Meyer, eigens politisch korrekt formatiert als „Feldforschung unter den Bedingungen eines kolonialen Herrschaftsprojekts“, die eng mit „Rassismus und weißer bürgerlicher Männlichkeit“ verbunden gewesen sei. 

Olle Kamellen, die – immer wieder neu herumgereicht – auch nicht aromatischer schmecken, könnte man denken. Dennoch enthalten sie mit der Geschlossenheit eines Wahnsystems die wesentlichen Elemente, die der breiten öffentlichen Rezeption und Akzeptanz dieser „großen Erzählung“ von deutscher, europäischer „Kolonialschuld“ so günstig sind. Vor allem vermitteln sie ein radikal vereinfachtes, im wahrsten Sinne des Wortes „schwarz-weißes“ Geschichtsbild, das perfekt multikulturelle, postnationale Weltanschauungsbedürfnisse befriedigt. 

Die Geographin Bauriedl malt dabei mit besonders grellen Farben. Für sie ist Europas Industrialisierung, Kultur und Zivilisation ohne die „koloniale Gewaltherrschaft“ gar nicht denkbar. Die „Infrastrukturen der Gewalt“, deren autochthonen Ursprüngen und Erscheinungsformen sie lediglich zwei Randbemerkungen gönnt, seien heute weiterhin, nicht nur in Hamburg und Bremen, in unseren Gesellschaften allgegenwärtig. Dank importierter „afrodeutscher Gruppen“, der „Black Community“ und der „People of Colour“, die nicht etwa ordinärer, den Steuerzahler mit der Rassismuskeule einschüchternder Migranten-Lobbyismus antreibt, sondern die sich selbstlos „kritisch“ damit auseinandersetzen, sei es jedoch gelungen, dieses schreckliche koloniale Erbe ins öffentliche Bewußtsein zu heben. 

Das „Modernitätsnarrativ“ soll dekonstruiert werden

So erfahre die „weiße Mehrheitsgesellschaft“ der europäischen Nachkommen von „Menschenhändlern“, wie tief sie in der Schuld der Afrikaner stünden. Wobei Bauriedl und ihresgleichen offenbar ernsthaft an ihre wirtschaftshistorisch vielfach widerlegte These glauben, ohne Kolonialwaren wie Kaffee, Tee, Kakao oder Bananen, also überwiegend Luxusartikel für den gutbürgerlichen Haushalt, sei die günstige Versorgung des deutschen Industriearbeiters und damit der relative Massenwohlstand im Kaiserreich unmöglich gewesen. 

Wie wenig solche Fabeln mit Wissenschaft, der Suche nach Wahrheit, der „illusionslos kritischen Einsicht in das, was ist“ (Adorno), zu tun haben, läßt sich auf kleinstem Raum nicht plastischer formulieren als auf den abschließenden zwei Seiten. Die über „Herstellung von Andersheit“ und „latent rassistische Konstruktion von ‘Afrikanern’“ im Geographie-Unterricht „aufklären“ wollen, und die zudem in jeder Zeile die Vita der Verfasserin beglaubigen. Tenor: es gibt keine „wesenhaften“ Unterschiede zwischen Europäern und Afrikanern, nur „Afrikabilder“ und „konstruierte Rassen“. 

Was Schüler an dazu konträrem „Vorwissen“ mitbringen, müsse genauso „dekonstruiert“ werden wie ihre „unbewußt wirksamen eurozentrischen Wissensstrukturen“, in deren Zentrum das „Modernitätsnarrativ“ stehe, das zwischen zivilisatorisch entwickelten und  unentwickelten Ländern unterscheide und „implizites Überlegenheitsdenken“, also „rassistische Hierarchisierung“ von Völkern begünstige.       

Diese vermeintlich antirassistische „Konstruktion“ pur stammt von Inken Carstensen, einer Assistentin Bauriedls: Seit einiger Zeit publiziert sie jedoch unter dem Doppelnamen Carstensen-Egwuom. Die Annahme einer Verbindung mit dem in der winzigen Flensburger Rapperszene aktiven Nigerianer Chidi Egwuom liegt nahe, hätte bei ihrer Bestätigung aber allenfalls die Bedeutung des I-Punkts ihrer Karriere, die ohne die Bereitschaft zur totalen Politisierung auch des privaten Daseins mitsamt der Preisgabe der Herkunftsidentität niemals möglich gewesen wäre. 

Die Betriebswirtin, die zugleich Interkulturelle Kompetenz und Afrikanistik studierte, ist insoweit ein beängstigend lupenreines Produkt der EU-Bildungspolitik. Von der Erasmus-Stipendiatin über den Einsatz im „Europäischen Freiwilligendienst“ und der Mitarbeit an dem von Brüssel finanzierten Projekt „Searching for Neighbours“, das sich bis 2010 der „Aushandlung von Zugehörigkeit und Differenz an geopolitischen und sprachlich-symbolischen Grenzen“ widmete, führt diese roboterhafte, an stalinistische „Spezialisten“-Abrichtung erinnernde Laufbahn bis zur Dissertation mit dem filigranen Titel „Transnationalismus und Intersektionalität zusammen denken. Eine intersektionale Perspektive für transnationale soziale Positionierung nigerianischer Migranten_innen in Bremen“.  

Darin spiegeln sich nicht nur höchst persönliche Vorlieben der Verfasserin für ihre afrikanischen Probanden, sondern auch ihr willkommenskulturelles Engagement als ehrenamtliche „Flüchtlingshelferin“ der Stadt Flensburg. Das fehlende Distanz zum Forschungsgegenstand kaum notdürftig verbergende pseudowissenschaftliche Dekor fällt von solchen Texten dann endgültig ab, wenn sie alltäglich-plumper Agitation dienen sollen. So in Carstensen-Egwuoms, ihrem Rundschau-Beitrag ähnelnden Handreichung zur „interkulturellen und antirassistischen Bildung“ im Kreis Schleswig-Flensburg. Wo sie davon träumt, wie Lehrer und Schüler gemäß der Parole „Afrikanisiert Euch!“ der „Stereotypisierungsbedrohung“ in Schulen der „Heterogenität“ und „Vielfalt“ entkommen können. Ein didaktisches Konzept, das zumindest beim wachsenden Anteil traditionell in Stereotypen heimischen muslimischen Schülern kaum Anklang fände. 

Akademische Begleitmusik zum UN-Migrationspakt

Hier aber, „ganz unten“, bei der Graswurzel-Indoktrination in der mit kulturfremden „Flüchtlingen“ zwangsbesiedelten Provinz, zerreißt jedenfalls der von dieser Art „Wissenschaft“ gestiftete Verblendungszusammenhang. Und so tritt sie auch im Diskurs über „Kolonialschuld und Rassismus“ letztlich ans Licht als das, was sie ist, die im UN-Migrationspakt eingeforderte „wohlwollende Berichterstattung“, die akademisch instrumentierte Begleitmusik des „Großen Austausches“. Auf daß die Geschichte Europas bald ebenso wie die Afrikas „aus einem Kommen und Gehen, aus bewegten Strömungen zum Kontinent hin und [unwahrscheinlich] von ihm weg besteht“, wie Carstensen-Egwuom hofft. 

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