© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/19 / 14. Juni 2019

Stalin und Trotzki am Bahnhof der Geschichte
Das unbekannte Wirken russischer Revolutionäre im Exil der k.u.k. Metropole Wien
Erich Körner-Lakatos

Im Januar 1913 ist die Wohnung des russischen Emigranten Matvej Skobelew in Wien-Wieden, Kolschitzkygasse No. 30, Tür 13 Schauplatz eines bemerkenswerten Treffens. Deutet die Tür 13 auf ein dunkles Omen? Nicht umsonst gibt es in vielen Wiener Häusern keine Türnummer 13, sondern stattdessen 12a. Wie auch immer: Trotzki unterhält sich gerade mit dem Gastgeber beim Samowar, als plötzlich und ohne anzuklopfen aus dem Raum nebenan ein Mann von kleiner Statur, hager, mit einem grauen Gesicht, das die Spuren der Pockenkrankheit trägt, wortlos ins Zimmer tritt, einen Augenblick lang an der Tür stehenbleibt und dem Gast einen unheimlichen Blick zuwirft. Dann nimmt er sich ein Glas Tee, um damit schweigend zu verschwinden. 

Trotzki residierte mondän, Stalin lebte im Untergrund 

Gastgeber Skobelew stellt den Mann als Georgier namens Dschugaschwili vor, der gerade Mitglied des bolschewistischen Zentralkomitees geworden ist. Trotzki behält – wie er in einer Notiz vom 22. September 1939 schreibt – diesen ersten Anblick seines Todfeindes in lebhafter Erinnerung. Es ist die Schweigsamkeit und der unheimliche Blick, der die zufällige Szene in Trotzkis Gedächtnis eingraviert und es ihm ermöglicht, sie noch 27 Jahre später mit einem leisen Schauer zu schildern. Die Szene ist nur deswegen überliefert, weil der Journalist Isaac Deutscher für seine dreibändige Trotzki-Biographie (Stuttgart 1962–1963) diese Aufzeichnungen im Nachlaß des Revolutionärs in der Houghton-Bücherei in Harvard entdeckt.

Das Wien des Jahres 1913 ist „ein Bahnhof der Geschichte“, wie es später der Schriftsteller Milo Dor beschreibt. Viele von denen, die sich später einen Namen machen, halten sich hier auf, darunter kurzzeitig Lenin, Trotzki, Stalin, Tito, Hitler und Horthy. Doch was verschlägt Stalin, was Trotzki an die Donau? Da Stalin nur kurz in der Kaiserstadt weilt, gibt es darüber nur spärliche Unterlagen. Er kommt von Krakau Mitte Januar 1913 in Lenins Auftrag nach Wien, um eine Studie über die nationale Frage zu verfassen. Eine Herausforderung für den Georgier, der keine der Sprachen der Doppelmonarchie beherrscht. Die Nachhilfelehrerin der kleinen Tochter seiner Quartiergeber übersetzt alles ins Russische. Stalin wohnt sechs Wochen lang als Untermieter des Ehepaars Trojanovsky in Wien-Meidling, in der Schönbrunner Schloßstraße 30, Tür 7. Er ist polizeilich nicht gemeldet, verkehrt nur mit wenigen Personen. Sobald es dunkel ist, verläßt er sein Zimmer und macht mit dem Quartiergeber einen ausgiebigen Spaziergang in die Umgebung.

Über Trotzki gibt es reichlich Material, er weilt immerhin sieben Jahre in Wien. Bereits im Spätsommer 1907 bekommt der Arzt Max Joseph Buxmann unerwarteten Besuch. Ein ungefähr dreißigjähriger Mann, mittelgroß, schlank, hohe Stirn, langgelocktes dunkelblondes Haar, stellt sich als Doktor Leo Bronstein, Journalist vor. Er ist manierlich, wenn auch nicht elegant gekleidet und erklärt, sich in der Sommervilla des Arztes in der Hüttelbergstraße 55 einmieten zu wollen. An sich etwas ungewöhnlich, denn Villenetagen mietet man üblicherweise am Beginn der warmen Jahreszeit. 

Doch der Besucher mit dem herabhängenden buschigen Schnurrbart macht auf den Mediziner einen guten Eindruck, man wird sich bald handelseins und eine halbe Stunde hat Buxmann einen neuen Mieter, von dessen wahrer Identität er keinen blassen Schimmer hat. Wegen der Beteiligung am Aufstand in Sankt Petersburg im Oktober 1905 verfrachtet Leo Trotzki – so der Kampfname Bronsteins seit 1902 – die Polizei des Zaren nach Sibirien. Von dort flieht Trotzki in die Schweiz, wo er seine Frau samt Sohn Leo unterbringt. Der Unstete reist weiter nach Berlin, schließlich verschlägt es ihn nach Wien. Die Arztvilla ist Trotzkis beste Unterkunft in Wien. Sie liegt im noblen Hietzing, wo auch der Kaiser logiert. Bald trifft seine Frau samt Leo, dem älteren Sohn ein. Am 21. März erblickt hier der zweite Sohn Sergej das Licht der Welt.

Die Familie übersiedelt nach einigen Monaten in die Rodlergasse im Wiener Vorort Sievering. Dort führt man ein biederes kleinbürgerliches Leben. Am Samstag ist Trotzki regelmäßig Gast im Café Central in der Wiener Herrengasse. 1917 erinnert sich sogar der k. u. k. Außenminister Ottokar Graf Czernin an den wortgewaltigen Kaffeehaus-Visionär. Als Czernins Sekretär mit den Worten „Exzellenz, in Rußland ist Revolution!“ hereinstürzt, erwidert er mit mildem Spott „Gehn’S, gehn’S! Wer soll denn in Rußland Revolution machen? Vielleicht der Herr Bronstein aus dem Café Central?“ 

Tatsächlich verließen zuvor, im Sommer 1914 nach dem Attentat in Sarajewo, viele russische Emigranten Wien. Trotzki hielt sich während der Kriegzeit in der Schweiz, in Spanien und in den USA auf. Als er Kunde von der Februarrevolution erhält, bricht Trotzki über Halifax nach Rußland auf, wird jedoch von den Briten festgehalten und in einem Lager für deutsche Kriegsgefangene interniert. Erst aufgrund politischen Drucks aus Sankt Petersburg wird Trotzki freigelassen und erreicht im Mai 1917 Rußland. 

„Sie sind mir noch eine Flasche Likör schuldig“

Nachdem Lenin ihn nach der Oktoberrevolution im Frühjahr 1918 zum Chef der Roten Armee gemacht hat, ruft für Trotzki ein Zufall seine Zeit in Wien-Sievering wach: Eines Tages inspiziert er ein Gefangenenlager, schreitet durch die Reihen, als er den Zuruf „Herr Bronstein, Herr Bronstein“ hört. Nur wenige kennen ihn unter seinem wahren Namen. Er steuert auf den Mann zu: „Was wollen Sie von mir? Wer sind Sie?“ – „Jo, kennen Sie mich denn nimmer? Frankl, Spirituosenhändler in der Rodlergasse. Sie sind mir noch eine Flasche Likör schuldig.“ – Trotzki kramte darauf in seinen Taschen, fand aber kein Geld. „Ich will kein Geld!“ – „Ja, was wollen Sie denn?“ – „Ich will nach Hause nach Wien.“ Daraufhin befiehlt Trotzki die vorzeitige Entlassung des Mannes.

Fünf Jahre nach ihrem ersten Treffen in Wien entwickelt sich früh zwischen Josef Stalin und Leo Trotzki ein Machtkampf, der sich bis 1924 zunehmend zuspitzt. Stalin entscheidet diesen für sich und drängt Trotzki erst aus der Partei und dann schließlich ins Exil. Fast drei Jahrzehnte nach dem Treffen hinter Türnumer 13 endet das Duell mit dem in der Sowjetunion als Unperson geltenden Revolutionär tödlich, als ein Auftragsmörder Stalins in Mexiko Trotzkis Schädel mit einem Eispickel zertrümmert.