© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/19 / 14. Juni 2019

Der Bürgerkrieg schlummert ständig in uns
Anthropologische Konstanten vom Schimpansen bis zum Hooligan: Feind ist, wer nicht dazugehört
Klaus Kunze

Am 13. November 2015 wurden im Pariser Bataclan 130 Menschen ermordet. Um 2800 v. Chr. starben 15 Männer, Frauen und Kinder einer Familie bei Krakau durch Schläge auf den Kopf, wie das Wissenschaftsmagazin PNAS am 6. Mai 2019 veröffentlichte (JF 22/19). Verbindet ein Erklärungsmuster solche Massaker? Der US-Biologe Mark W. Moffett hält in seinem neuen Grundlagenwerk über den Zusammenhalt menschlicher und tierischer Gesellschaften einen Schlüssel zum Verständnis bereit.

Die in Koszyce bei Krakau Ermordeten gehörten zur Kugelamphoren-Kultur (um 3200 bis 2700 v. Chr.). Sie bestanden genetisch zu 30 Prozent aus ursprünglicher Jäger-Sammler-Bevölkerung, zu 70 Prozent aber aus Nachkommen von Kleinasien eingewanderter Bauern (kulturell Linienbandkeramiker). Diese hatten sich in Mitteleuropa lange stark ausgebreitet, sind aber inzwischen fast völlig aus unserem Genpool verschwunden. 

Aus dem Steppengebiet nördlich des Schwarzen Meeres waren nämlich im 3. Jahrtausend Stämme westwärts bis zu den Britischen Inseln vorgedrungen, die von Sprachwissenschaftlern übergreifend als Indogermanen bezeichnet werden. Am Beispiel der ausgelöschten Sippe von Kugelamphoren-Leuten können wir erkennen, warum wir hauptsächlich von Indogermanen abstammen und nicht von Kugelamphoren-Leuten und deren kleinasiatischen Ahnen.

Massaker, wie im heutigen Koszyce durch die Grabung dokumentiert, hat es in der Geschichte immer wieder gegeben und sind auch für das steinzeitliche Kenia (10000 v. Chr.) und Deutschland (Talheim um 5100 v.Chr.) nachgewiesen. Neigen Menschen biologisch zum Brudermord? Moffett reduziert das Menschsein nicht aufs Biologische, sondern entfaltet ein Spektrum an Argumenten von der Ethnographie über die Geschichtsschreibung bis hin zur Psychologie.

Daß Tiergesellschaften Konkurrenz der eigenen Art bekämpfen und vollständig auslöschen können, kennt er als Spezialist für Ameisenvölker bis hin zu unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen. Diese führen regelrechte Vernichtungskriege gegen konkurrierende Horden. Doch woran erkennen sie, wer zur eigenen Gruppe zählt und wer fremd ist? Ameisenvölker erkennen sich am Geruch, und Säugetiere wie Affen kennen einander persönlich. Schimpansen-Gesellschaften werden nie größer als etwa 200 Individuen, weil sie sich nicht mehr Mitglieder merken können. Menschliche Gesellschaften sind dagegen potentiell unbegrenzt groß. Unser evolutionärer Fortschritt besteht darin, in anonymen Gesellschaften an kulturellen „Markern“ zu erkennen, wer „Wir“ und wer die anderen sind. Solche Kennzeichen können eine Sprache sein, eine Bemalung, die Bekleidung oder Haartracht, ein Abzeichen, ein Ritus oder vieles andere.

Die Nutzung gemeinsamer Marker ermöglicht uns, auch mit persönlich Unbekannten unserer eigenen Gesellschaft angstfrei umzugehen, gehören sie doch zu „uns“. Sie birgt aber auch eine Gefahr, weil sie alle ausschließt, die aus dem Raster fallen. Anhand unzähliger ethnologischer und historischer Beispiele weist Moffett nach, daß diese jeweils „Anderen“ psychologisch aus dem „Wir“ und damit häufig geradezu aus dem Menschsein ausgeschlossen werden. Es scheint menschlich zu sein, andere als „unmenschlich“ auszugrenzen. Schon Konrad Lorenz 1973 und Irenäus Eibl-Eibesfeldt 1994 hatten von Pseudo-Artbildung gesprochen, wenn die benutzten Marker erheblich voneinander abweichen. Unsere Biologie hindert uns nicht daran, solche „Anderen“ bis zur Ausrottung zu bekämpfen. 

Gesellschaften verkraften Veränderungen nur maßvoll

Von dem Massaker in Polen vor 4.800 Jahren führt eine Blutspur über die Ausrottung von Indianerstämmen bis ins Bataclan. Aus Perspektive der Täter unterscheiden sich die Merkmale Pariser Metal-Fans so tiefgreifend von islamischen, daß Ermordung geradezu als gottgefällige Tat erscheint. „Fremde Marker“ führen zwar nicht zwangsläufig zu Konflikten oder gar Massakern. Bei passendem Anlaß markieren sie aber aus Tätersicht die passenden Opfer.

Um den Menschen als des Menschen Wolf zu bändigen und inneren Frieden zu stiften, schuf der Staat der beginnenden Moderne verbindende gemeinsame Riten, Hymnen, Fahnen und Abzeichen, also verbindliche „Marker“ im Sinne Moffetts. In zerfallenden Staaten bilden sich heute konkurrierende Gesellschaften innerhalb der Gesellschaft. So wurden Tutsis von Hutus und Moslems von Serben massakriert. 

Wir können das Auseinanderbrechen auch vormals homogener Gesellschaften in feindselige Teile täglich beobachten. Nur mit massiver staatlicher Gewalt lassen sich manche Subkulturen auseinanderhalten, die sich bis zum Exzeß eigener Marker bedienen. Unter speziellen Symbolen, besonderer Bekleidung oder gleichförmigen Parolen werden Außenstehende so erbarmungslos attackiert, wie eine Ameisen- oder Schimpansengesellschaft die andere bekämpft. „Die anderen“: Das kann die Staatsmacht sein, wenn ein „Schwarzer Block“ haßerfüllt auf die Polizei losgeht, „die Ungläubigen“, die Hooligans des „feindlichen Vereins“ oder irgendwelche verdächtigen Fremden.

Für Moffett zerfallen gesetzmäßig alle Gesellschaften irgendwann. Es entspreche „harter Realität, daß Gesellschaften nur eine bestimmte Menge von Veränderungen verkraften. Irgendwann läßt sich das soziale Gewebe nicht mehr flicken.“ Das Zugehörigkeitsgefühl werde auf eine Untergruppe übertragen. Erst breche die Kommunikation zusammen. Man bildet Echokammern und verhängt Sprechverbote. „Wenn wir die mentalen und emotionalen Fähigkeiten anderer Menschen als unterentwickelt beurteilen und ihnen eine fehlende Ethik unterstellen“, klagt Moffett, „halten wir uns selbst davon ab, mit ihnen in normalen Austausch zu treten.“ 

Je mehr Veränderungen sich bei den Markern einer Gesellschaft ansammeln, desto zersplitterter werde sie. Am Ende erreiche jede Gesellschaft ihre Belastungsgrenze. Dann betrachte jede Fraktion die andere als feindselig „mit einer unerträglichen Identität und Handlungsweisen, die außerhalb der Grenzen der Gesellschaft liegen“. Wie Schimpansen hätten auch Menschen die „Fähigkeit, die Wahrnehmung zu ‘unseresgleichen’ abzuschalten“. Wenn später eine Greueltat begangen sei, „beurteilen wir diejenigen, denen Unrecht geschehen ist, als nicht menschlich, und dies verwandelt sich in einen Schutzmechanismus, der die Schuldgefühle lindert und uns das Weitermachen ermöglicht.“ Gerade Bürgerkriege zeigten: „Eine veränderte Reaktion der Menschen auf andere Mitglieder ihrer eigenen Gesellschaft kann im Handumdrehen den ganzen Weg zu empörender Entmenschlichung und regelrechter Brutalität zurücklegen.“

Unserer ererbten Konfliktneigung, so hofft Moffett, könnten wir durch bewußte Selbstkorrektur entgegenwirken. Wir werden sehen, ob und wer in globalem Maßstab dazu bereit ist.

Hannes Schröder u.a.: Unraveling ancestry, kinship, and violence in a Late Neolithic mass grave

 www.pnas.org/

Mark W. Moffett: Was uns zusammenhält. Eine Naturgeschichte der Gesellschaft. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main  2019, gebunden, 688 Seiten, 26 Euro