© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/19 / 21. Juni 2019

„Das schwächt die Verfassung“
Wird das Grundgesetz seit Jahren durch Bundestag und Regierung gebrochen? Ja, so Bundesminister a.D. Rupert Scholz. Er warnt vor den Folgen
Moritz Schwarz

Herr Professor Scholz, unser Grundgesetz ist gerade, umjubelt und gefeiert, siebzig geworden. Aber ...? 

Rupert Scholz: Aber es hat auch seine Probleme, obwohl es zweifellos die beste Verfassung der deutschen Geschichte ist und zu Recht so gewürdigt wird.  

Was für Probleme?

Scholz: Eine der Stärken seiner Konzeption ist seine Beschränkung auf Grundsätze – statt zu versuchen, alle möglichen konkreten politischen Inhalte zu fassen. Denn das stellt sicher, möglichst wenig zu „veralten“. Inzwischen wächst aber genau diese Tendenz, immer mehr Einzelheiten ins Grundgesetz schreiben zu wollen. Denken Sie etwa jüngst an die Forderung nach einem verfassungsmäßigen Recht auf Wohnung, Schutz des Klimas oder vor sexueller Diskriminierung. Das mag alles schön und gut sein, zerstört aber eine Verfassung. 

Warum?  

Scholz: Weil es sie überfrachtet. Eine Verfassung regelt Grundsätzliches, nicht das Konkrete. Das führt nämlich unweigerlich dazu, daß das Tagespolitische dort Einzug hält und sie zum Spielball der Politik wird. Genau das aber darf eine Verfassung auf gar keinen Fall sein! 

Parteien gehen damit inzwischen sogar auf Stimmenfang: Wählen Sie uns, wir schreiben XY ins Grundgesetz!

Scholz: Eben, und sich im Grundgesetz zu verewigen gilt mittlerweile als höchster politischer Erfolg und als Garantie, eigene Politik auch über die Abwahl hinaus zu konservieren. Doch das alles führt dazu, daß eine Verfassung ihre normative Kraft verliert. 

Was heißt das konkret? 

Scholz: Würde etwa ein soziales Grundrecht auf bezahlbaren Wohnraum oder gar auf Enteignung von Wohnraum ins Grundgesetz eingeführt werden, würde das in der Konsequenz Grundprinzipien der Sozialen Marktwirtschaft, der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie und letztlich auch eine erfolgreiche Wohnungsbaupolitik vereiteln. 

Etliche derer, die das Grundgesetz zum Siebzigsten gar nicht genug preisen konnten, haben zuvor allerdings wenig Skrupel gezeigt, es zu brechen, etwa in der Asylkrise 2015. Wie paßt das zusammen?        

Scholz: Gar nicht, denn was damals passiert ist, war nicht nur „ein“ Verfassungsbruch – sondern der schwerste, den wir in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland jemals erlebt haben.

Also müßte 2015 nicht als das „Jahr der Flüchtlingskrise“, sondern als das der Verfassungskrise bezeichnet werden? 

Scholz: Ja, wobei es nicht nur um 2015 geht – beide Krisen halten bis heute an.

Inwiefern?

Scholz: Nach wie vor kommen monatlich etwa 15.000 Asylbewerber aus sicheren Drittstaaten zu uns. 

Das mag höchst problematisch sein, aber warum ist das eine Verfassungskrise?

Scholz: Ich selbst habe 1993 als Bundestagsabgeordneter die Änderung des Asylrechts mitgestaltet, das seitdem besagt, daß wer aus einem sicheren Drittstaat kommt, bei uns kein Asylrecht hat. So steht es nicht irgendwo, sondern in Artikel 16a des Grundgesetzes! Dieser Artikel wurde nicht nur 2015 massiv gebrochen – er wird es seitdem noch immer! Und damit auch das Dubliner Übereinkommen, das das gleiche besagt.

Allerdings hat „Dublin“ doch nicht Verfassungsrang? 

Scholz: Das ist richtig, aber der Artikel  16a nimmt genau das auf, was über die Vereinbarung von Dublin bereits europarechtlich festgelegt war. Der entscheidende Verfassungsbruch lag darin, daß die Bundesregierung seinerzeit unkontrolliert die Grenzen Deutschlands für eine ebenso unkontrollierte Einwanderung geöffnet hat. Wer in dieser Weise auf eigene Staatsgrenzen verzichtet, der verzichtet in der weiteren Konsequenz auf die Identität des ganzen Staates. 

Warum? 

Scholz: Weil der Staat aus drei Elementen besteht: Staatsvolk, Verfassung und Staatsgebiet. Wer also auf unsere Grenzen verzichtet, gibt ein Stück des Staates auf, den das Grundgesetz schützt – also den Staat in seiner verfassungsrechtlichen Identität.  

Bis heute verneint die Bundesregierung, die Grenzen geöffnet zu haben, da diese – Stichwort Schengen – bereits offen waren.

Scholz: Falsch, denn Voraussetzung dafür war der Schutz der EU-Außengrenzen. Als der nicht mehr gegeben war, oblag der Grenzschutz wieder Berlin. Schengen betrifft allein die Freizügigkeit innerhalb der EU für alle ihre Bürger, also nicht die Einwanderung von außen.  

Aber sticht nicht das Argument der Kanzlerin, humanitäre Not habe gedroht?   

Scholz: Nein, denn es gibt keine Humanität über der Verfassung. 

Allerdings erklärt Artikel 1 bekanntlich die Würde des Menschen zum Ausgangspunkt des Grundgesetzes. Steht die Humanität also nicht doch über allen seinen Artikeln?

Scholz: Nein, die ganze Artikel-1-Argumentation ist eine Ablenkung. Weil es nämlich gar nicht um „die Würde des Menschen“ geht, sondern um Artikel 16a. Und der besagt übrigens nicht nur, daß Einreisende aus Drittstaaten kein Asylrecht haben, sondern auch, daß für die wirklich politisch Verfolgten ein Recht auf Asyl gilt. 

Worauf wollen Sie hinaus? 

Scholz: Darauf, daß von „politisch Verfolgten“ und „Asyl“ die Rede ist, aber mit keinem Wort von Einwanderung. Macht man aber die Grenzen auf, dann hat das mit Asyl nichts mehr zu tun.  

Das Artikel-1-Argument spielt bis heute eine große Rolle in der Debatte, denn dieser, heißt es, spricht von der „Würde des Menschen“, nicht „des Deutschen“. 

Scholz: Auch das ist ein Stück Irreführung. Denn das Grundgesetz ist eine nationale Verfassung, die für die Bundesrepublik Deutschland gilt und nicht für Menschen, die sich außerhalb Deutschlands in ihrer Würde verletzt sehen. Das Grundgesetz ist kein weltweiter Wertmaßstab. 

Warum hört man das dann ständig? 

Scholz: Weil dieses Mißverständnis gezielt gezüchtet und gestreut wird.

Von wem?

Scholz: Von Parteien, Journalisten, NGOs, Teilen der Kirchen und anderen. 

Warum?

Scholz: Weil sich die „Refugees welcome“-Gestimmtheit quer durch Politik, Medien und Öffentlichkeit zieht.

Trifft also Horst Seehofers viel kritisiertes Diktum von der „Herrschaft des Unrechts“ aus verfassungsrechtlicher Sicht doch zu?

Scholz: Ich habe mit dieser Umschreibung keine Probleme. 

Also erlebt die Bundesrepublik bis heute anhaltend den schwersten Verfassungsbruch ihrer Geschichte und nichts passiert?  

Scholz: Das ist es ja, was ich beklage!

Wie bitte ist das zu erklären?

Scholz: Damit daß, als das 2015 anfing, alle Bundestagsfraktionen mitgemacht und sich mitschuldig gemacht haben.

Aber wir leben doch in einem Rechtsstaat.

Scholz: Ja, und ich habe keinen Zweifel daran, daß das Bundesverfassungsgericht diese Politik für verfassungswidrig erklärt hätte. Das Problem war nur, daß es keinen Kläger gab. 

Die CSU wollte, die AfD hat geklagt. 

Scholz: Die CSU hat es, warum auch immer, vermutlich aus Rücksicht auf die Kanzlerin, nicht getan. Und die AfD ist damit gescheitert. Übrigens zu Recht, denn eine solche Klage, in der niemand konkret in seinen Grundrechten verletzt ist, sondern die darauf zielt, eine Politik auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zu prüfen, ist eine Organklage. Die heißt so, weil sie nur von Organen der Verfassung erhoben werden kann, etwa dem Bundestag. Doch eine Bundestagsfraktion hatte die AfD damals noch nicht.

Wo ist dann noch der Unterschied zu einer Bananenrepublik? 

Scholz: Dort ist der Rechtsstaat abgeschafft – was bei uns nicht der Fall ist. Karlsruhe hätte gehandelt, wären die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen dafür erfüllt gewesen. Und das ist übrigens auch der Grund, warum das berühmte Widerstandsrecht des Grundgesetzes hier nicht greift. Das ist nur gültig, wenn es um die Abschaffung der grundgesetzlichen Ordnung geht und rechtlicher Widerstand nicht mehr möglich ist. Beides war und ist hier nicht gegeben.

Aber wie ist es dem Normalbürger zu vermitteln, daß ein Verfassungsbruch solchen Ausmaßes ohne Folgen bleibt?

Scholz: Ich sehe das ebenso kritisch wie Sie. Und ich bin sicher, daß dieser Fall unser Land noch lange beschäftigen wird. 

Die AfD wird meist als Gefahr für die Demokratie dargestellt. Folgt man Ihrer bisherigen Darstellung, erscheint sie dann nicht eher wie deren Verteidigerin?

Scholz: Auf jeden Fall ist die AfD die einzige Partei, die hier die Dinge klar beim Namen nennt. Das sollte den anderen eigentlich zu denken geben. Doch statt dessen sprechen die von Populismus und Rassismus. Ich kann nur davor warnen, diese Themen weiter mit einem Tabu zu belegen, das wird auf Dauer nicht gutgehen. Nehmen Sie auch den Umstand, daß die sozialpolitischen Erfolge der SPD in der Groko vom Wähler nicht honoriert werden. Warum? Weil das eben nicht mehr die Themen sind, die die Menschen wirklich bewegen. 

Ist das aber nicht die Klimapolitik? 

Scholz: Ich glaube das nicht. Sicher, die ist ein wichtiges und derzeit auch ein großes Thema. Aber ob sie die Masse der Bürger wirklich existentiell anspricht?

Klingt alles so, als betrieben die anderen Parteien eigentlich ein 1A-Konjunkturprogramm für die AfD.

Scholz: Ja, das kann schon sein. Jedenfalls halte ich nichts davon, deren Erfolg in den Ostländern mit einer Entdemokratisierung dort gleichzusetzen. Vielmehr ist ein wesentlicher Grund dafür, daß es dort ein vergleichsweise starkes Gefühl für nationale Identität gibt, das im Westen vielfach geschwunden ist. 

Fällt die nationale Identität Deutschlands eigentlich auch unter den grundgesetzlichen Bestandsschutz? 

Scholz: Ja, soweit es die nationale Souveränität betrifft. Sprich, das Grundgesetz verbietet – das hat Karlsruhe klar festgestellt –, diese, etwa zugunsten eines EU-Bundesstaats, abzuschaffen. 

Massenzuwanderung hat Einfluß auf das Staatselement Staatsvolk. Was ist damit?

Scholz: Sollte die Einwanderung solche Ausmaße annehmen, daß dessen Identität sich verändert, dann ist das mit dem Grundgesetz wohl nicht mehr zu vereinbaren. Das Problem ist nur, ab wie viel Millionen Einwanderern ist das der Fall? Wer legt das fest?   

Ihre Partei ist Ausgangspunkt des von Ihnen beklagten Verfassungsbruchs. Müßten Sie die CDU nicht aus Protest verlassen?

Scholz: Nein, ich protestiere lieber deutlich vernehmbar innerparteilich. Die These von der sogenannten Willkommenskultur trägt weder rechtlich noch politisch. 

Warum nicht? 

Scholz: Dafür ist die Zahl der Einwanderer schon zu groß. Das zeigt ein Blick nach Frankreich, wo die Integration weitgehend mißlungen ist. Und das obwohl dort das Kultur- und Sprachproblem viel kleiner ist, da viele Einwanderer aus den ehemaligen Kolonien kommen, bereits Französisch sprechen und mit französischer Kultur schon etwas vertraut sind. Im Gegensatz zu jenen, die zu uns gekommen sind und bei Ankunft nichts von Land und Sprache wissen. Ihre Integration, die in der Mehrzahl der Fälle wohl nicht mal gelingt, wird jährlich zehn bis zwanzig Milliarden Euro kosten – was vielen Bürgern noch gar nicht bewußt ist. Wo das alles hinführt, weiß ich nicht, aber schon dieser Punkt wird zu erheblichen Auseinandersetzungen führen können.






Prof. Dr. Rupert Scholz, der Staatsrechtler war von 1988 bis 1989 unter Helmut Kohl Bundesminister der Verteidigung und von 1981 bis 1988 unter Richard von Weizsäcker und Eberhard Diepgen Justizsenator des Landes Berlin. Dem Bundestag gehörte er von 1994 bis 2002 an, bis 1998 als Vizevorsitzender der CDU/CSU-Fraktion. Von 1998 bis 2001 war er zudem stellvertretender Vorsitzender des CDU-Landesverbands Berlin. Zuvor hatte er einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der FU Berlin, danach in München den für Finanz-, Staats- und Verwaltungsrecht sowie Verwaltungslehre inne. Geboren wurde Rupert Scholz 1937 in Berlin, wo er heute als Rechtsanwalt tätig ist. 

Foto: Staatsrechtler Scholz: „Schwerster Verfassungsbruch in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“