© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/19 / 21. Juni 2019

Der Geist aus der Flasche
Armutseinkommen: Viele prekär Beschäftigte suchen Mülleimer nach Pfandgut ab
Hinrich Rohbohm

Immer mehr Menschen scheiden aus der Mittelschicht aus und rutschen in prekäre Arbeitsverhältnisse mit Einkommen unter der Armutsgrenze. Gleich welche Untersuchung man heranzieht, sei es der aktuelle Verteilungsbericht der nach Hans Böckler benannten DGB-Stiftung von November 2018 oder die jüngste Studie der Bertelsmann-Stiftung: Die deutsche Mittelschicht schrumpft. 

Steuern und Sozialabgaben steigen, Einkommen stagnieren, viele Arbeitsplätze sind in Gefahr. Nur noch etwa ein Drittel der Unternehmen in Deutschland zahlen Tariflohn. Eine Generation zuvor waren es noch doppelt so viele. Hatte diese Generation bei Arbeitsplatzverlust noch eine gute Wiederaufstiegschance und den Schutz eines mehrjährigen Arbeitslosengeldes, so fallen nach den Hartz-IV-Reformen und durch die entstandenen atypischen Beschäftigungsverhältnisse gerade die Angehörigen der Mittelschicht ins Bodenlose.

In Zeiten von Wohlfühl- und Klientelpolitik, Vollversorgung für Flüchtlinge und medienwirksamer Fokussierung auf die Klimaerwärmung eine gefährliche Entwicklung. Sie läßt in Deutschland lange nicht vorhandene Klassengegensätze aufbrechen, beschert den Volksparteien historisch schlechte Wahlergebnisse und bedroht den sozialen Frieden.

Prozente und Millionen sind abstrakte Größen. Vorstellbar und lebendig werden sie an Einzelschicksalen. Die JF ist Menschen nachgegangen, die sich bloß über Wasser halten, die an einem Leben auf der Straße so gerade vorbeischlittern.

Job weg, Frau weg, Haus weg, Ein-Zimmer-Wohnung

Seine Blicke in die Mülleimer sind diskret. Würde man Rolf D. nicht genau beobachten, so nähme man gar nicht wahr, daß der 54jährige nach Pfandflaschen und Pfanddosen Ausschau hält. Brille, dunkles Hemd. Dazu eine beigefarbene Hose und eine Sommerjacke. Die leicht gelockten ergrauten Haare sind gepflegt. Wer Rolf D. auf der Straße sieht, denkt an einen gutsituierten Mann. An einen Lehrer, Zahnarzt oder Architekten. Einen Mann aus der Mittelschicht.

Erst nach längerer Beobachtung wird klar: Dieser Mann gehört nicht zur Mittelschicht. Nicht mehr. Er durchstreift die Hamburger Innenstadt. Den Hauptbahnhof. Die Mönckebergstraße. Den Jungfernstieg. Mehrere U- und S-Bahnhöfe. Zwei Stunden lang. Rolf D. blickt in Hunderte von Abfallbehältern, immer auf der Suche nach Dosen und Flaschen. Auf dem Rücken trägt er einen schwarzen Rucksack, der sich allmählich füllt. Wenn er voll ist, steuert er einen Supermarkt an und gibt den Inhalt seines Rucksacks in den Pfandautomaten. Den Bon löst er an der Kasse gegen bescheidenes Bargeld ein.

Danach beginnt die Tour von neuem. Er fährt mit der U-Bahn Richtung Hamburg-Barmbek. Die Bahn ist voll wie an jedem Morgen. Eine ältere Dame findet keinen Platz mehr, muß stehen. Rolf D. erhebt sich, bietet ihr seinen Platz an. Im Gang stehend, holt er eine zusammengerollte Zeitung aus der Innentasche seiner Jacke hervor. FAZ. Niemand in der Bahn würde Rolf D. für einen Flaschensammler halten. Dennoch hat der Mann, der einst ein Bruttomonatsgehalt von 6.000 Euro bezog, sein Zuhause verloren. Seine Frau, seine Kinder, seine Freunde. Und seine Arbeit.

Auf das Beobachtete angesprochen, reagiert er zurückhaltend, auch abweisend. „Was wollen Sie von mir?“ entfährt es ihm, langsam realisierend, daß es nicht nur eine Momentaufnahme war, die wir von ihm gesehen haben. Schweigen. Ein leerer, hilfloser Blick. Nein, in die Zeitung will er auf keinen Fall. Seine Geschichte möchte er trotzdem erzählen. Unter Zusicherung von Anonymität. Die ist ihm wichtig.

Warum, das wird klar, je länger er von sich erzählt. „Mein Leben ist eine Fassade“, gibt er später unumwunden zu. Rolf D. zählte in der Tat lange zu dem, was gemeinhin als Mittelschicht bezeichnet wird. Eine Frau, zwei Kinder, ein Reihenhaus am Stadtrand von Hamburg mit kleinem Garten. Ein Opel Astra. Und ein Arbeitsplatz. 14 Monatsgehälter, 30 Tage Urlaub. Zweimal im Jahr ging es mit Frau und Kindern in die Ferien. Kanaren, Mittelmeer, Robinson-Club.

Das ist lange her. „Der Bruch kam vor zehn Jahren“, erzählt er mit leiser Stimme. Es war die Zeit der Weltfinanzkrise, in der auch sein Arbeitgeber in eine „angespannte Situation“ geriet. Was er arbeitete und für wen, darüber möchte Rolf D. nicht sprechen. „Jedenfalls verlor ich durch die Krise meinen Arbeitsplatz. So hatte alles angefangen.“ Der Familie erzählt er nichts davon. „Aus Scham“, wie er eingesteht. Wie immer verläßt er morgens das Haus, kommt abends zurück. Er sucht sich neue Arbeit. „Ich fand auch schnell wieder was, aber zeitlich befristet und mit deutlich niedrigerem Einkommen.“

Zweimal im Jahr Urlaub war nicht mehr drin. Bei Wochenendausflügen drückte D. finanziell auf die Bremse. Die Kinder maulten, die Frau stellte Fragen. Fragen, denen er versuchte auszuweichen. „Das konnte auf Dauer nicht gutgehen.“ Die Ehe begann zu kriseln, die befristete Stelle lief aus. „Ich nahm neue Jobs an, aber die Bezahlung wurde für mich immer schlechter.“ Weniger Urlaub, nur noch zwölf statt 14 Monatsgehältern. „Wie ich mich auch abstrampelte, ich hatte keine Chance mehr, wieder auf mein altes Gehaltsniveau zu kommen.“

Er bekommt Depressionen, trinkt mehr Alkohol, als ihm guttut. Seine Frau verläßt ihn, die Kinder nimmt sie mit. Nun beginnen Nachbarn und Freunde, nachzufragen. Nachfragen, die D. wieder aus Scham nicht beantworten möchte. Er kapselt sich ab, verliert zunehmend seinen Freundeskreis. „Ohne das Einkommen meiner Frau konnte ich auch das Haus nicht halten. Ich verlor meine Heimat.“ Er zieht in die Innenstadt, nimmt sich eine bescheidene Ein-Zimmer-Wohnung in Eimsbüttel. Sein Auto verkauft er. Das war vor fünf Jahren.

Inzwischen ist die Miete für seine Wohnung deutlich gestiegen, die Kosten für Strom ebenso. „Nur der Lohn steigt nicht in gleichem Maße“, stellt er sarkastisch fest. Und ja, er hat eine Fahrkarte für den Nahverkehr, beantwortet Rolf D. auf Nachfrage. Eine Monatskarte für den Hamburger Innenstadtbereich. Schwarzfahren, betteln oder gar stehlen, dazu würde er sich niemals verleiten lassen. „Wenn dein Wohlstand sinkt, darf nicht auch noch deine Seele sinken, denn dann hast du nichts mehr.“ Selbstachtung ist das, was ihm geblieben ist. Er hat sich nach außen hin eine Fassade aufgebaut, will weiterhin dazugehören. Zur Mittelschicht, zur arbeitenden Bevölkerung, zu den Leistungsträgern.

Arbeitslosigkeit, Sozialhilfe, ein Leben auf Staatskosten würde ihm niemals in den Sinn kommen. Zur Tafel gehen, um kostenlos Essen zu erhalten? „Niemals“, sagt Rolf D. entschlossen. „Ich will keine Almosen, sehe aber, daß Leute wie ich mehr werden in unserer Gesellschaft.“ Knapp 200 Euro im Monat bleiben ihm zum Leben. Er hält nach Sonderangeboten Ausschau, um ordentliche Kleidung zu ergattern, und nimmt zum Lesen Zeitungen mit, die in der Bahn liegengeblieben sind.

Konkurrenzkampf hat durch Zuwanderung zugenommen

Und er schaut dezent in öffentliche Abfallbehälter, in der Hoffnung, möglichst viele Pfandflaschen aufzutreiben. „Ich sehe, wie immer mehr Menschen in den Mülltonnen wühlen und daß für mich immer weniger Flaschen übrigbleiben. Gleichzeitig höre ich von unserer Regierung, daß es uns so gut wie nie geht. Da paßt was nicht zusammen.“

Rolf D. war lange Zeit ein CDU-Anhänger. Dann wählte er irgendwann gar nicht mehr. Inzwischen tendiert er zur AfD. Die Zuwanderung habe den sozialen Konkurrenzkampf noch verschärft, sagt er. Auch an der Mülltonne.

Und es gibt Hilfsarbeiter wie den jungen Mann an der Warschauer Straße in Berlin, der sich mit dem Flaschensammeln ein zweites Standbein geschaffen hat. Blitzsaubere weiße Turnschuhe, gepflegte Hose, sauberes T-Shirt, auf dem Kopf ein Basecap. Über seine rechte Schulter hat er sich eine große Sporttasche gehängt, schlendert so von Mülleimer zu Mülleimer. Ein kurzer Blick ins Innere. Nichts. Weitergehen. Gelegentlich greift er tief ins dunkle Etwas des Abfallbehälters, angelt sich eine Flasche heraus. Doch nicht jede ist ihm willkommen, einige Plastikflaschen wirft er enttäuscht wieder weg. „Da gibt’s nichts für“, brummt er. Er öffnet seine Tasche, um das frisch ergatterte Gefäß zu verstauen. Zum Vorschein kommen an die fünfzig weitere Pfandflaschen. „25 Euro pro Tag sind bei so was drin. Wenn ich jeden Tag sammle, macht das im Monat 750 Euro steuerfrei“, rechnet der Ungelernte vor.

Zur nächsten Station: Schlesisches Tor. Aussteigen. Ein weiterer Kontrollgang zu den Müllbehältern beginnt. Görlitzer Bahnhof, Kottbusser Tor, dann Alexanderplatz und Berlin-Hauptbahnhof. Stets ist es das gleiche Ritual. Später geht es dann zum Getränkemarkt. Geld abholen, und dann alles wieder von vorn. „Auf diese Weise reicht es für mich. Es ist ja immer schwieriger geworden, Jobs zu finden, von denen du auch leben kannst. Die volle Flasche löscht meinen Durst, aber die leere Flasche sichert meine Existenz“, scherzt der Mann.

„Pfandflaschen aus dem Abfall sammeln nimmt zu, ganz eindeutig“, erzählt der JF auch ein Mitarbeiter der städtischen Müllentsorgung in Hannover. Er treffe beim Entleeren inzwischen täglich solche Sammler an. „Rund um den Bahnhof hast du oftmals gar keine Flasche oder Dose mehr drin, die wurden längst von irgendwem rausgefischt.“ Wer genau hinsieht, kann auch in Hannover schnell die zahlreichen Sammler entdecken.

Einen anderen Weg hat der Straßenkünstler Helmut Artiste gewählt. Am Kröpcke, einem großen Platz in der Fußgängerzone von Hannover, hat er sich auf den Boden gelegt und beginnt, mit schwarzer und weißer Kreide die Steinplatten zu bemalen. Rundherum hat er kleine silberfarbene Teller aufgestellt, auf die Passanten Geld legen können. Nach etwa 30 Minuten läßt sich erkennen, was das Ganze werden soll, wenn es fertig ist: ein Bild des Schauspielers Charlie Chaplin. Einige Menschen bleiben stehen, legen Münzen auf die Teller, die sich langsam, ganz langsam füllen.

„Eigentlich habe ich ja ein eigenes Atelier“, sagt der Künstler aus der Nähe von Aschaffenburg. Doch davon allein könne er nicht leben. Und so reist er von Stadt zu Stadt, quer durch Europa, um sich auf der Straße ein Zubrot zu verdienen. Helmut Artiste hat mit seinen Zeichnungen schon an vielen Orten für Aufsehen gesorgt, ist immer wieder mal fotografiert und porträtiert worden. Eigentlich hat er mit 63 bereits ein Alter erreicht, wo andere in Rente gehen. Doch für ihn wird es keine Rente geben. „Solange ich arbeiten kann, arbeite ich.“ Was danach kommt, ist ungewiß. Wird auch er eines Tages Flaschen sammeln gehen?

Foto: Ein Flaschensammler greift am Berliner Kurfürstendamm in einen Mülleimer: „Pfandflaschen aus dem Abfall zu sammeln nimmt zu“