© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/19 / 21. Juni 2019

Der Volkstribun muß liefern
Italien: Innenpolitisch feiert Lega-Chef Salvini Erfolge, wirtschaftlich aber sorgen sich viele Stammwähler
Marco F. Gallina

Der Volkstribun ist ein altrömisches Amt. Durch die italienische Geschichte hindurch hat es nie seine Kraft verloren. Immer wieder kehrt die Sehnsucht nach einer Persönlichkeit zurück, die mit Machtstrukturen aufräumt, die auf dem Boden von Korruption und Vetternwirtschaft über Jahrzehnte gediehen. 

Ob Tiberius Gracchus in der Antike, Cola di Rienzo im Mittelalter oder Giovanni dalle Bande Nere in der Renaissance – der Typus des charismatischen Populisten, der kommt, um Italien zu befreien, ist eine widerkehrende Erscheinung. Um so erbarmungsloser schicken die Italiener dagegen jene Hoffnungsträger in die Wüste, die sich als Nullnummern entpuppen. Zuletzt waren das Silvio Berlusconi und Matteo Renzi – und heute droht der Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) dasselbe Schicksal. 

Die Partei von Luigi Di Maio steht ein Jahr nach Regierungsantritt vor einem Scherbenhaufen. Die Regionalwahlen 2019 verliefen enttäuschend bis katastrophal: nicht einmal einen Ministerposten hat das Bündnis gewonnen.Bei den Kommunalwahlen in über 3.000 Gemeinden setzte sich nur ein einziger Bürgermeisterkandidat im süditalienischen Campobasso durch. Der M5S, der noch bei den Parlamentswahlen im April 2018 stolze 32 Prozent erreichte, steht in gegenwärtigen Umfragen nur noch bei 18 Prozent; bei der Europawahl lagen die Linkspopulisten sogar einen Punkt darunter. 

Beppe Grillos M5S am Ende

Die Anarchie und das Dilettantentum der einst von Beppe Grillo gegründeten Partei offenbarte sich bereits in der Hauptstadt Rom unter dem Regiment von Virginia Raggi. Die Mißstände haben jedoch nunmehr einen Punkt erreicht, daß Di Maio hart durchgreift: „Wir brauchen eine Organisation mit Rollen, Verantwortungen und Projekten. Das wird unsere Arbeit der nächsten Monate sein.“ Der M5S will sich neu erfinden – aber ihm rennt die Zeit davon. Der sozialdemokratische Partito Democratico hat bereits den direkten Konkurrenten in den Umfragen hinter sich gelassen.

Viel gefährlicher für die Zukunft der Fünf-Sterne-Bewegung ist jedoch ein ganz anderer Faktor. Er sitzt im römischen Palazzo Viminale – dem italienischen Innenministerium. Matteo Salvini begeht den ersten Jahrestag seiner Amtsübernahme so, wie er sie begonnen hat: im Konflikt mit Seenotrettern und Schleppern. Sea Watch will wieder Migranten nach Italien bringen. Der Innenminister verhängt ab jetzt Geldstrafen. 

Salvinis Krieg gegen die illegale Migration ist der Garant seines Aufstiegs gewesen: Während Di Maio sich im Wirtschaftsministerium aufreibt, oder dessen Kollege Danilo Tonelli sich bei Infrastrukturprojekten abmüht, konnte der Lega-Chef jene Rolle übernehmen, die ihm auf den Leib geschneidert ist. Mit klaren Ansagen in „Law and Order“-Manier hat der „Capitano“ den Migrationsstrom über das Mittelmeer nicht nur um 90 Prozent gesenkt, sondern mit dem nach ihm benannten Sicherheitsdekret auch eine schärfere Gangart gegen die organisierte Kriminalität eingeschlagen. Mit der „Legittima difesa“ hat Salvini das Recht der Italiener auf Selbstverteidigung in den eigenen vier Wänden erheblich ausgebaut.

Die Italiener honorieren Salvinis Durchgreifen beim Thema Sicherheit. Aber die einzigartige Zustimmung zur Lega, die von Wahlsieg zu Wahlsieg eilt und in den Umfragen ein Rekordhoch von 36 Prozent verzeichnet (Parlamentswahl 2018: 17 Prozent), geht tiefer. Salvini ist nicht Berlusconi: Ohne millionenschwere Unternehmensgruppe und ohne Medienimperium ist es ihm gelungen, eine Regionalpartei innerhalb weniger Monate zur Volkspartei umzubauen. Trotz Medienfeuer, trotz etablierter Konkurrenz – und trotz Regierungsverantwortung. Das Credo der etablierten Parteien lautete bisher, daß Populisten an der Macht sich selbst entzauberten. Kritiker verurteilten Salvini vor der Wahl als Großmaul. Bis heute mäkeln linke Journalisten, daß Salvini mehr Wahlkampf betreibe als Politik.

 Das Argument erscheint zweischneidig, bedenkt man, daß der Lega-Chef offenbar einen besseren Job macht als seine linken Vorgänger, die in ihrem Vollzeitjob immer wieder behaupteten, daß dieses oder jenes nicht möglich sei. Es sind solche Tatsachen, die den Italienern die Augen geöffnet haben. Mittlerweile liegt selbst der Süden der Lega zu Füßen – einer Partei, die 2013 dort wegen mangelnder Erfolgsaussichten nicht einmal antrat.

Was Salvini außergewöhnlich unter den europäischen Rechtspopulisten macht: eine veränderte Rhetorik, die knallhart in der Sache bleibt, aber sich zunehmend Richtung Zentrum orientiert. Salvini fordert chemische Kastrationen für Kinderschänder oder kündigt die Schließung sämtlicher Häfen für Seenothelfer an. Daß Minderheiten jedoch zum Sündenbock verfehlter Wirtschaftspolitik würden, sind Fake News. Der „Capitano“ setzt in seinen Botschaften an seine Wähler – die er immer als „liebe Freunde“ adressiert – auf positive Botschaften und italienisches Lebensgefühl. Ob der Sonnenaufgang über Sardinien, die Riesenpolenta auf Twitter oder die Umarmung mit der alten Nonna: Salvini bleibt ein Politiker zum Anfassen. Er redet nahezu nie über „den Islam“, sondern von Katholizismus, Kultur und gutem Essen. Mussolini, der Zweite Weltkrieg oder völkische Thesen interessieren ihn schlichtweg nicht – es bleiben die negativen Themen seiner Gegner.

Salvini enttäuscht kleine und mittlere Unternehmer  

In Venetien, einem der Kerngebiete der Lega, kratzt die Partei heute an der 50-Prozent-Marke. Zugleich rumort es gerade hier, an der Basis. Die Stammwähler der Lega, meistens kleine und mittlere Unternehmer, entfremden sich zusehends von ihrem Anführer. Der Vorwurf: Salvini bedient nicht mehr die Kernthemen seiner Partei. Nach dem Referendum in der Lombardei und Venetien hat sich nur wenig getan, um die Bürokratie zu entschlacken und den Zentralstaat zu föderalisieren. 

Die linke Sozial- und Wirtschaftspolitik stößt denjenigen auf, welche die wirtschaftsliberale Lega gewählt und den linken M5S bekommen haben. Der Lega-Chef muß daher liefern: über Steuersenkungen wie die „Flat Tax“ oder die „Mini-Bots“, von denen Wirtschaftsexperten munkeln, sie könnten als Parallelwährung den Ausstieg aus dem Euro vorbereiten. 

Der Druck auf Salvini wächst, nun auch seine wirtschaftlichen Versprechen einzulösen. Der Zweifrontenkrieg gegen die EU und den Koalitionspartner könnte den Volkstribun am Ende zermürben – oder ein willkommener Vorwand sein, die Regierung doch noch zu verlassen, um die versprochene Politik mit neuer Mehrheit einzulösen. Dann stände der „Capitano“ da, wo so viele charismatische Populisten vorher gescheitert sind.