© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/19 / 21. Juni 2019

Die Welt blickt gespannt auf Istanbul
Türkei: Die Nachwahl in der Bosporus-Metropole entscheidet über die politische Zukunft der gesamten Nation
Marc Zoellner

Dieses TV-Duell sorgte für Top-Einschaltquoten. Am Sonntag abend versammelten sich Millionen vor ihren Fernsehern, um die Wahlkampfdebatte zwischen Binali Y?ld?r?m und Ekrem Imamoglu live zu verfolgen. Es war das erste Fernsehduell zweier Spitzenkandidaten in der Türkei seit 2002 – und sogleich ein wegweisendes. Denn beide Kontrahenten machten ihrem Publikum deutlich, daß die Wähler im kommenden Urnengang nicht nur über das Amt des Oberbürgermeisters von Istanbul entscheiden würden, sondern vielmehr über die politische Zukunft ihrer gesamten Nation.

Eigentlich hatten die Istanbuler ihr Stadtoberhaupt schon Ende März gewählt. Der hauchdünne Sieg Imamoglus von der kemalistischen CHP, der mit  rund 14.000 Stimmen Vorsprung über den ehemaligen türkischen Premier Y?ld?r?m von der islamisch-konservativen AKP triumphierte, galt vielen Kommentatoren als Wendezeichen der Wählerschaft gegen den als autoritär geltenden Führungsstil des türkischen Präsidenten Recep T. Erdogan.

Dementsprechend groß war der Protest in Kreisen der AKP, als die Bosporusmetropole im Frühling an die CHP verlorenging; dementsprechend laut auch die Forderungen nach einer Wiederholung der Wahl. Anfang Mai erkannte der Hohe Wahlausschuß (YSK) die Beschwerde der AKP nach „Unstimmigkeiten bei der Aufstellung der Wahlgremien“ an, annullierte die Wahl samt Ergebnis und setzte Neuwahlen für den 23. Juni an. Es war ein Schock, von dem sich die Opposition allerdings rasch wieder erholen konnte. Schon am Folgetag nach der Urteilsverkündung des YSK ließ die CHP viral den Slogan verbreiten: „Wir werden erneut gewinnen!“

Trotz alledem blieb den Bürgern der Türkei ein fader Nachgeschmack. So durfte es nicht verwundern, daß eine komplette Hälfte der dreistündigen Fernsehdebatte allein um die Frage ging, warum eigentlich erneut gewählt werden müsse. Recht zu beantworten wußte das keiner der beiden Widersacher. Y?ld?r?m monierte: „Es wurden Stimmen gestohlen.“ „Um Gottes Willen“, witzelte Imamoglu zurück, „wer hat sie denn gestohlen?“ Der YSK, fügte der derzeitige Bezirksbürgermeister des Stadtteils Beylikdüzü hinzu, habe keine Belege hierfür in seiner Begründung vorbringen können.

„In einer Stadt wie Istanbul mit ihren über zehn Millionen Wählern hat niemand das Recht, den Wahlsieg für sich zu reklamieren, wenn der Unterschied nur vierzehntausend Stimmen zählt“, hatte Erdogan Anfang April den knappen Ausgang kommentiert. 

Doch Imamoglu will sich nicht beirren lassen. Er warnt vor „Korruption und Vetternwirtschaft“ und verspricht gründliches Ausmisten: Daß die in Istanbul ansässigen islamisch-konservativen Stiftungen Türgev und Tügva nicht nur von engen Familienmitgliedern Erdogans verwaltet, sondern von der AKP-Regierung gleichzeitig allein in den vergangenen zwei Jahren gut 15 Millionen Euro an Fördermitteln vom Staat haben einstreichen dürfen, sei eine unzumutbare Verflechtung privater und staatlicher Interessen. Gegen diesen Nepotismus versprach er konsequent durchzugreifen – und erntete eine Schmutzkampagne seitens der AKP. „Die Griechen sagen, daß Ekrem Imamoglu Grieche ist“, begab sich der stellvertretende AKP-Vorsitzende Nurettin Canikli auf Stimmenfang im nationalistischen Lager. Der CHP-Politiker sollte erst einmal beweisen, daß sein Geist, Herz und Gedanken bei der türkischen Nation seien.