© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/19 / 21. Juni 2019

Leben wie Ärzte in London
Wohnungsmarkt: Dresden verkaufte seine Wohnstätten, um sich zu entschulden / Jetzt setzt ein Umdenken ein
Paul Leonhard

Zwischen dem barocken Zwinger und den Überresten des Wettiner Bahnhofs ist in Dresden ein neuer Stadtteil entstanden. Private Investoren bieten hier Mietwohnungen mit höchstem Komfort an. Zu Preisen, die sich ein Durchschnittsverdiener nicht leisten kann. Gleichzeitig fehlen in der Stadt mehr als 10.000 bezahlbare Wohnungen: „Wir benötigen mehr Wohnungen, für Alleinstehende und für große Familien mit zwei und mehr Kindern“, sagt Sozialbürgermeisterin Kristin Kaufmann (Linke). Die sächsische Landeshauptstadt hatte vor 13 Jahren ihr Wohneigentum verkauft.

2006 hatte hier eine Stadtratsmehrheit dem Komplettverkauf der 48.000 kommunalen Wohneinheiten an die amerikanische Investmentgesellschaft Fortress zugestimmt. Dresden hatte zu diesem Zeitpunkt bereits etwa 120.000 seiner 168.000 Wohnungen veräußert.

Während Politiker in Osteuropa die günstige Abgabe an langjährige Mieter erzwangen – und so soziale Unruhen verhinderten –, setzte sich in Deutschland um die Jahrtausendwende ein Trend zum quartierweisen Verkauf an Investmentgesellschaften durch. 1999 verkaufte Kiel 11.000 Wohnungen, 2004 Berlin 66.000 Wohnungen. Insgesamt wurden während der heißen Phase zwischen 1999 und 2009 in Deutschland mehr als 900.000 Wohnungen aus öffentlichen Beständen weggegeben.

Was den Fall Dresden einzigartig macht: Mit den Einnahmen von 987 Millionen Euro konnte die Stadt nicht nur ihre Schulden von mehr als 740 Millionen Euro tilgen, sondern hatte sogar noch über 200 Millionen Euro übrig.

„Dresden hat es aus eigener Kraft geschafft, die kommunale Selbstverwaltung und damit die politische Souveränität zurückzugewinnen“, lobte seinerzeit Finanzbürgermeister Hartmut Vorjohann die Maßnahme.

Mietpreisbremse für Olaf Scholz bedenkenswert

Etwas wurde übersehen: Der Stadtrat besitzt seither kein wohnungspolitisches Steuerungselement mehr. Wie auch in Leipzig stiegen die Mieten in Dresden seit 2008 um ein Drittel (in Berlin um bis zu 104 Prozent). Im Herbst 2017 folgte eine Umkehr. Der rot-grün-rote Stadtrat setzte nach langer Diskussion die Gründung der Wohnungsbaugesellschaft „Wohnen in Dresden“ (WID) durch. Diese soll bis 2022 rund 800 Wohnungen bauen – ein Bruchteil des Bedarfs.

Zusätzlich will die Stadt Investoren verpflichten, bei Neubauten 30 Prozent Sozialwohnungen zu schaffen. Die CDU fordert 15 Prozent oder Ausgleichsmaßnahmen sowie eine „Allianz für bezahlbares Wohnen“. Und Oberbürgermeister Dirk Hilbert (FDP) fordert von der Bundesregierung eine Kurskorrektur. Diese müsse prüfen, was Investoren ermuntere, günstige Wohnungen zu schaffen, und wie Mieter zu schützen seien. Das sei sinnvoller, als „populistische Debatten über Enteignungen zu führen“.

Einen anderen Weg wählte Berlin mit der sogenannten Mietpreisbremse. Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) zeigt Verständnis dafür. „Man muß über solche Maßnahmen nachdenken, um den überhitzten Wohnungsmarkt zu dämpfen“, sagte er der FAZ. Die meisten aus der Mittelschicht könnten nicht mehr als acht Euro kalt je Quadratmeter zahlen. „Wenn wir nicht Verhältnisse wie in London wollen, wo selbst Anwälte und Ärzte in Wohngemeinschaften leben, weil sie sich keine eigene Wohnung leisten können, müssen wir dagegen etwas unternehmen“, gab er zu bedenken.

Elbflorenz will Fahrradwege und linke Kulturzentren

Die Mietpreisbremse solle fünf Jahre bestehen. Der Berliner Eigentümerverband Haus & Grund riet daher seinen Mitgliedern, die Miete zu erhöhen, bevor das Gesetz in Kraft tritt. Immobilienökonom Michael Voigt­länder vom IW Köln erkennt darin einen „typischen Vorzieheffekt“, zu dem es komme, wenn die Politik in einen Markt eingreife. Die Beispiele von Spanien in den sechziger und siebziger Jahren und Großbritannien mit der „Fair Rent“-Regel in den achtziger Jahren zeigten das gleiche Muster. Vermieter erhöhten die Mieten vorab oder verkauften die Wohnungen häufig auch an die Mieter selbst.

Der Dresdner Komplettverkauf von 2006 sei jedenfalls richtig gewesen, ist Hilbert überzeugt. Er argumentiert mit der Situation von Leipzig, das damals ähnlich schuldengeplagt war, heute noch eine halbe Milliarde Euro abbezahlen müsse, obwohl die Stadt sparte. „Berechnungen sagen Leipzig wieder einen Schuldenstand von rund 900 Millionen Euro voraus“, erklärte Hilbert den Dresdner Neuesten Nachrichten.

Die vom Verkauf ihrer Wohnung betroffenen Mieter indes dürfte die Argumentation des Stadtoberhauptes weniger interessieren. Viele sehen sich – nicht nur in Dresden – mit überhöhten Betriebskosten, der Abrechnung nichterbrachter Leistungen, falscher Einordnungen der Wohnlage und horrenden Mieterhöhungen konfrontiert.

Im Gegensatz zu anderen Orten, in denen die Stadt wieder Wohnraum erwirbt, steht das in Dresden nicht zur Debatte. Elbflorenz will in Fahrradwege und Kulturprojekte investieren. Damit stellt sich Dresden abermals gegen den Trend. Nach einer Analyse des Immobilienberatungsunternehmens NAI Apollo wurden im ersten Quartal 2019 rund 890 Millionen Euro der öffenlichen Hand in den Kauf von Wohnungen investiert, das Vierfache im Vergleich zum Vorjahresquartal.

„Ankäufe von Bestandswohnungen führen, neben den vielfältigen Neubaumaßnahmen, zu einer deutlichen Erweiterung der Wohnungsbestände in öffentlicher Hand – in den angespannten Wohnungsmärkten auch durch ausgeübte Vorkaufsrechte“, zitiert die Welt am Sonntag den NAI-Chefanalysten Konrad Kanzler. 





Die Privatisierungswelle

In Deutschland begann die Privatisierung öffentlicher Wohnungsbestände 1995. In den neuen Ländern wurde Wohnungsgenossenschaften und kommunalen Wohnungsbaugesellschaften der Verkauf oder der Abriß von Teilen ihrer Bestände durch das Altschuldenhilfegesetz vorgeschrieben. So konnten sich die Gesellschaften von Schulden befreien, die ihnen per Gesetz aus der DDR-Gesamtschuldenlast zugeordnet worden waren. Die En-bloc-Verkäufe, verbunden mit hohen Bestandszahlen und Preisrabatten bei einem im europäischen Vergleich guten Zustand der Wohnungen, riefen Investoren wie Cerberus, Apellas, Deutsche Annington und Fortress herbei. Die größten Privatisierungsfälle umfaßten Zehntausende Wohnungen (Größtes Paket: 93.000 Wohnungen der LEG in Nord­rhein-Westfalen). Im selben Jahr, als Dresden seinen Wohnungsbestand an Fortress veräußerte, wurde in Freiburg eine geplante Privatisierung kommunaler Wohnungen durch Bürgerentscheid verhindert. Berlin und Nord­rhein-Westfalen sind nach Auswertungen des Instituts für Stadtforschung die Zentren des Wohnungshandels. In Berlin wurden zwischen 1999 und 2005 mehr als 230.000 Wohnungen verkauft, im Ruhrgebiet 281.000 Wohneinheiten. (PAL)