© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/19 / 21. Juni 2019

Den Gewaltakt verlängert
Literatur: Warum Ines Geipels Buch über den Osten Deutschlands ein Dokument des Ressentiments ist
Thorsten Hinz

Innerhalb weniger Wochen hat das neue Buch von Ines Geipel die vierte Auflage erreicht. Lobende Rezensionen und zahlreiche Interviews in Presse, Rundfunk und Fernsehen, in denen die Autorin ihre Thesen ausbreitete, haben für den nötigen Rückenwind gesorgt. ZDF-Moderator Markus Lanz äußerte sich begeistert: „Ein wirklich grandioses Buch. Kein Wort zu viel und jeder einzelne Satz ein Volltreffer. Eins der wichtigsten Bücher des Jahres.“

Der Titel liefert die Erklärung für die Publizität: „Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Haß“. Die Annotation auf dem Schutzumschlag ergänzt: „Fremdenfeindlichkeit und Haß ‘auf den Staat’: Verlieren wir den Osten Deutschlands?“ In drei östlichen Bundesländern stehen Wahlen bevor, die Prognosen für die AfD sind hervorragend. Da paßt das Buch zur politischen Agenda, die da lautet: Kampf gegen Rechts!

Ines Geipel, 1960 in Dresden geboren, gehörte in den achtziger Jahren zu den besten Sprinterinnen der DDR. Bis heute ist sie Mitinhaberin eines Staffelweltrekords, von dem sie aber wegen des Dopingeinsatzes nichts mehr wissen will. Geipel hat unbestreitbare Verdienste: Sie hat das DDR-Zwangsdoping in die Öffentlichkeit getragen und für Opferentschädigung gekämpft. Als Herausgeberin der „Verschwiegenen Bibliothek“ hat die studierte Germanistin unterdrückte Literatur aus der DDR vor dem Vergessen bewahrt. So ist sie im Lauf der Jahre in den Ruf einer Seelen-Expertin für den Osten gekommen.

Das Buch bietet eine Innenansicht ihrer Familiengeschichte, die sie als modellhaft für die Tabus, Verwicklungen und Beschädigungen der DDR-Gesellschaft ansieht. Den Schreibimpuls löste der Tod ihres Bruders Robert („Robby“) aus, der im Januar 2018 an einem inoperablen Hirntumor starb. Beide waren eng miteinander verbunden gewesen, ehe sie sich im Streit über den Umgang mit ihrer Vergangenheit entfremdeten. Erst in den letzten Wochen kam es zu einer Wiederannäherung.

Ihr Vater spionierte DDR-Flüchtlingen nach

Geipels Familiengeschichte ist keine gewöhnliche. Beide Großväter waren bei der SS, der eine hatte wenigstens Kenntnis von den Vorgängen im Rigaer Ghetto. Ihr Vater führte ein Doppelleben. In der bürgerlichen Existenz war er Musiker und leitete den Pionierpalast in Dresden, wo die Familie im Nobelviertel Weißer Hirsch wohnte. Nachträglich erfuhr sie aus den Stasi-Akten, daß seine wochenlangen Absenzen, welche die Mutter mit Lehrgängen entschuldigte, in Wahrheit mit seiner professionellen Agententätigkeit zusammenhingen. Die Stasi hatte ihn mit acht verschiedenen Identitäten ausgestattet, unter denen er in der Bundesrepublik spionierte und DDR-Flüchtlinge auskundschaftete. In Techniken des Tötens und des Terrors war er ebenfalls ausgebildet. Die eigenen Kinder wurden zu Objekten seiner Gewalt.

Das alles wurde in der Familie über 1989 hinaus konsequent beschwiegen, in der „Familienkrypta“ versiegelt, wie Geipel schreibt. Geipel meint in ihrer Familienaufstellung, im bruchlosen Übergang der NS-konformen zur DDR-konformen Familie, das Paradigma des zweiten deutschen Nachkriegsstaates zu erkennen, dessen Nachwirkungen bis in die Gegenwart reichen. Die Mitläufer und kleinen Funktionsträger des NS-Regimes hätten ihre erlernten Verhaltensweisen unter antifaschistischen Vorzeichen beibehalten, anstatt sie aufzuarbeiten und zu überwinden. Symbolhaft für den fließenden Übergang von der braunen in die rote Diktatur steht die KZ-Gedenkstätte Buchenwald, das quasireligiöse Zentrum des staatlichen Antifaschismus, der auch den Gründungsmythos der DDR darstellt: Das KZ war nach 1945 von den Sowjets weitergeführt worden.

Die Brüchigkeit und Verlogenheit des DDR-Antifaschismus sind keine Neuigkeiten. Sehr speziell sind jedoch die Folgerungen, die Geipel daraus zieht. Die unbelehrt gebliebenen Kinder Hitlers – also die Generation ihrer Eltern – hätten „Hitlers Enkel“ und diese „Hitlers Urenkel“ herangezogen. Das Ergebnis seien Pegida, die Wahlerfolge der AfD, der Rechtsextremismus und die „Gewaltlust des Ostens“. In einem Interview  faßte sie die schlimmsten Ost-Gebrechen so zusammen: „1. Jeder zweite im Osten ist fremdenfeindlich. 2. Die Gewalt ist dreimal so hoch wie im Westen. 3. Jeder zweite Ostdeutsche will muslimische Zuwanderung untersagen.“ In der Perspektive Geipels erscheinen die östlichen Bundesländer als der Störfall; die westlichen als der politische und geistig-moralische Normalfall.

Westlicher Antifaschismus erweist sich als destruktiv

Um nur ein paar der sekundären Fehler im Buch zu nennen: Geipel benutzt die Begrifflichkeit einer wissenschaftlich zweifelhaften Extremismus-Forschung, ohne deren Stichhaltigkeit zu überprüfen. Zweitens fügt die Lebenswirklichkeit der DDR sich nicht in ein holzschnittartiges Diktatur-Raster ein. Zwar sprach die SED-Propaganda besitzergreifend von „unseren Menschen“, doch viele versuchten sich dem Zugriff zu entziehen: durch Rückzug ins innere Exil oder in die private Nische, durch Ausreiseanträge.

Für Geipel sind sogar die populären Indianerfilme, welche die Defa ab Mitte der sechziger Jahre als Antwort auf die Karl-May-Verfilmungen im Westen drehte, nur Mittel der Indoktrination gewesen. Was für ein Unfug! Die Filme brachten ein bißchen Exotik, Farbe, Abenteuer, die Weite und Freiheit der Prärie in das sozialistische Einheitsgrau des eingezäunten Landes.

Geipel denkt und schreibt dogmatisch statt dialektisch. So entgeht ihr auch, daß selbst der offizielle Antifaschismus oder die Klassiker des Marxismus-Leninismus zu Ausgangspunkten des Widerstands werden konnten, wenn man sie nur beim Wort nahm. Als Oppositionelle der Parteiführung Rosa Luxemburgs Satz: „Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden“, entgegenhielten, führte das zu einem Veitstanz der staatlichen Organe.

Vor allem aber – und das ist Geipels primärer Fehler – genügt es nicht, dem Antifaschismus der DDR seine Verlogenheit nachzuweisen. Seine westliche Variante erweist sich als ebenso destruktiv. Die DDR leitete den Antifaschismus aus der marxistisch-leninistischen Faschismus-Theorie ab, der zufolge die BRD weiterhin potentiell faschistisch war. Die Bundesrepublik hielt mit der Totalitarismus-Theorie dagegen, ehe sich unter dem Einfluß der aus den USA reimportierten Frankfurter Schule ebenfalls der Antifaschismus durchsetzte. Im Unterschied zur östlichen Variante, in der die Veränderung der ökonomischen Besitzverhältnisse entscheidend war, zielte die westliche auf die Veränderung der autoritären Persönlichkeitsstruktur ab.

Die Entwicklung im Westen entsprach dem Geist der Anti-Hitler-Koalition im Zweiten Weltkrieg, der die Nachkriegsordnung einschließlich der Ost-West-Konfrontation transzendierte und überformte. Das Bündnis der Westmächte mit Stalin, der früher als Hitler zum Massenmörder geworden war, ließ sich im Rückblick nur rechtfertigen, wenn der Nationalsozialismus qualitativ schlimmer gewesen war als der Stalinismus. Andernfalls hätten bei den West-Alliierten rein materielle Motive den Ausschlag für das Bündnis gegeben, womit ihre geistig-moralische Vormundschaft über die Bonner Republik zweifelhaft geworden wäre.

Die Großverbrechen Stalins mußten also durch eine metaphysische Dimension der Hitlerschen Großverbrechen überboten werden. In der holocaust-zentrierten Zivilreligion hat diese Geschichtsmetaphysik ihre gültige Form gefunden. Sie entzieht sich der Historisierung und zwingt im Zeichen des „Nie wieder!“ den Nachgeborenen die fortgesetzte, schuldbewußte Selbstprüfung und den vorgeblich antiautoritären Antifaschismus auf, der in Wahrheit höchst autoritär ist!

Dieser Irrsinn wurde den Überlebenden des DDR-Antifaschismus nach der Wiedervereinigung als die neue geistige Freiheit verkauft. Grundsätzlich hat Geipel recht, wenn sie die Jahre ab 1933 für das Gebiet der DDR als eine durchgängige Gewaltgeschichte beschreibt. Nur vergißt sie hinzuzufügen, daß die mechanische Übertragung westdeutscher Politik- und Denkmuster auf den Osten die Gewaltgeschichte verlängert hat.

Die Situation in der DDR sei – in Geipels „Volltreffer“-Sprache – nach dem Mauerfall folgende gewesen: „Eine Gesellschaft stand einem unsortierten, mehrfach beschwiegenen und völlig verstellten Geschichtsklumpen oder auch Erbschaftsressort gegenüber, in dem sie herumsuchte, den sie ertastete, seismographisch erspürte, der aber oft genug auch zu Abspaltungen und Seelenlähmungen führte.“ Großer Gott! Ein Klumpen ist eine unförmige, feucht-schwere Masse; „Ressort“ bezeichnet einen Bereich oder eine Abteilung. Folglich läßt „Geschichtsressort“ an einen mit wichtigen Ereignissen und Erinnerungen gefüllten Raum denken. Wie aber konnten beide seismographisch erspürt werden? Hat der Raum zu beben begonnen? Oder bekam die Autorin weiche Knie? Hing der Klumpen an einem seidenen Faden, geriet in Schwingung und fiel Frau Geipel auf den Kopf, was zu Abspaltungen und Lähmungen führte? Solche sprachlichen Mißgriffe können passieren, aber bitte nicht auf jeder zweiten oder dritten Seite! Die Autorin hat viele große Gedanken ahnungsvoll in sich aufwallen gefühlt. Nur fehlten ihr dafür die Worte.

Die Trauma-Ursache verschweigt die Autorin

Was beim Leser zurückbleibt, ist Mitgefühl für ihre und ihres Bruders „Kindheit im Terror“, verursacht durch den Vater. „Wir mußten durch die Realität eines enthemmten Mannes, Vater, der verdeckte Krieger. Es war das Stasi-Prinzip jener Jahre.“ Die Verbindung zwischen dem familiär induzierten Kindheitstrauma und dem Unterdrückerstaat erscheint willkürlich, weil Geipel die konkrete Trauma-Ursache auch auf Nachfragen beschweigt. Auf Seite 114 ist nur zu lesen, sie und ihr Bruder seien jahrelang „die Stechpuppen des Vaters, seine Trainingsobjekte“ gewesen.

Wenn Metaphern überhaupt einen Sinn haben sollen, ist damit wohl die Geschichte eines sexuellen Mißbrauchs angedeutet. Die Stasi war des Teufels, doch Kindesmißbrauch war weder ihr Prinzip noch ihre Exklusivität. Einerseits verschließt Geipel den Vater-Tochter-Konflikt in der Krypta ihres Herzens; andererseits projiziert sie ihn unbewiesen auf den Staat. Deshalb ist ihr Buch ein Dokument des Ressentiments und nicht der Analyse. Seine Erhebung zum Wunderbuch über den Osten bedeutet einen weiteren Gewaltakt gegen ihn.

Ines Geipel: Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Haß, Klett-Cotta, Stuttgart 2019, gebunden, 377 Seiten, 20 Euro