© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/19 / 21. Juni 2019

Für ein Reich im Zentrum
Vor 500 Jahren wurde mit Karl V. eine der prägendsten Figuren der Frühen Neuzeit zum römisch-deutschen Kaiser gekrönt
Eberhard Straub

Die Wahl Karls V., „des edlen Bluts vom Hause Österreich“, als burgundischer Prinz in Brüssel aufgewachsen, seit 1516 König von Spanien, zum Römischen Kaiser vor fünfhundert Jahren am 28. Juni 1519 in Frankfurt war die dramatischste, die es je in der  Geschichte des Kaisertums gegeben hatte, obschon sie einstimmig erfolgte. Sie war keine deutsche Angelegenheit mehr, sondern eine europäische. Denn der König von Frankreich, Franz I., fühlte sich unmittelbar bedroht, sollte es zu der spanisch-deutschen Hausunion kommen, die auch Italien einschloß. 

Langwieriger Kampf gegen Franz I. von Frankreich  

Dem englischen König Heinrich VIII. war eine solche Kombination ebenfalls äußerst unangenehm. Ein Kaiser, der zugleich König von Frankreich blieb, konnte ihm allerdings auch nicht gefallen. Es lag deshalb nahe, unter den Deutschen dafür zu werben, etwa den Kurfürsten von Sachsen – Friedrich den Weisen – zum Kaiser zu wählen. Das war nicht ganz aussichtslos. Denn die sieben Kurfürsten bangten, ob nicht ein König von Spanien das Reich, das sie mit ihrem Gremium zu verkörpern meinten, wie ein Nebenland behandeln und für seine Zwecke ausnutzen würde, Aber jeder war auf den anderen eifersüchtig und gönnte ihm keinen besonderen Vorrang. 

Die Aussicht, den spanischen König und das Haus Österreich dauernd zum Feinde zu haben, wenn um die Reichskrone, gleichsam ein Familienbesitz, betrogen, schreckte sie freilich noch mehr als mögliche Eigenwilligkeiten eines künftigen spanischen Königs als Kaiser. Außerdem hatte Maximilian I., der Vorgänger und Großvater Karls V. sehr darauf geachtet, Fürsten, Reichsritter, Reichsstädte, Humanisten und Künstler mit sich und seinem Haus eng zu verbinden. Der Repräsentant des Reiches war für solche Reichspatrioten der Kaiser und nicht die Gemeinschaft sehr eitler und selbstsüchtiger Kurfürsten, die vor allem an ihren jeweiligen Vorteil dachten. Es gab zum ersten Mal bei einer Kaiserwahl, auch wegen der neuen populären Medien, der Flugblätter und des Holzschnitte, eine öffentliche Meinung im Reich, die sich kräftig bemerkbar machte. Und diese war antifranzösisch. Bis hinab unter die Bauern hoffte man auf einen deutschen Kaiser, der den verblaßten Glanz und die Herrlichkeit des Reiches wieder herstellen würde.

National erregt wünschten sich die meisten einen Kaiser, der endlich entschlossen eine umfassende Reformation, von der seit Jahrzehnten die Rede war, unternahm, ohne sich von der gewohnten deutschen Vorsicht und juristischen Umständlichkeit oder gar von den Franzosen einschüchtern zu lassen. Der Name Karl schien vielversprechend, einen neuen Karl den Großen verheißend. Dem englischen Botschafter fiel auf, wie verhaßt den Deutschen die arroganten Franzosen waren, die mit ihrer Kultur und ihren Sitten und ihrer Geschichte prahlten. Auf das Kaisertum ihres französischen Karls des Großen erhoben sie einen Anspruch, weil ihre Könige von den Deutschen listig um dies besondere Erbe gebracht worden seien. 

Damit verletzten sie den Stolz der Deutschen, die nie an ihrem historischen Auftrag zweifelten, den Kaiser bestimmen zu dürfen und das Römische Reich erhalten zu müssen in Erinnerung an die seit der Spätantike verlorene Einheit in Vielfalt und als Mahnung, im Römischen Reich und in dessen Frieden dermaleinst wieder möglichst alle Völker und Kronen zusammenzufassen. Das sahen zuletzt auch die Kurfürsten so, in französischer Vorherrschaft eine Despotie fürchtend, die alles Besondere der Deutschen, ihre Freiheiten als Volk der Freien, ersticken würde. Karl V. war von der kaiserlichen Würde und der Idee des Römischen Reichs als Universalmonarchie vollständig durchdrungen. Er glaubte wie sein Großvater Maximilian und sein Urgroßvater Kaiser Friedrich III. unerschütterlich an die mit AEIOU verschlüsselte Verheißung: Alles Erdreich ist Österreich untertan. Das Haus Österreich und nicht das Reich ist dabei allerdings die große, weltbewegende Kraft. 

Insofern vermochte Karl V. – in Spanien lapidar el César genannt – den historisch legitimierten Universalismus des Römischen Reiches mit dem kastilianischen Sendungsbewußtsein zu verschmelzen, daß die Könige des in sich einigen Spanien von Gott dazu berufen seien, mit der spanischen Monarchie eine sämtliche Erdteile umfassende Weltmonarchie zu ermöglichen. Das Römische Reich war dabei nur ein Element in diesem ganz neuen Weltreich, das weit über die Grenzen der den Römern bekannten Welt hinausreichte. Plus Ultra – Mehr, weiter, höher hinaus – so lautete die Devise Karls V. und das Programm der das Reich und Spanien und die weite Welt umfassenden Monarchie des Hauses Österreich. 

Karl V. kümmerte sich nicht sonderlich um Amerika, rechnete aber mit den wachsenden Einkünften von dort, die es ihm erlaubten, seine neuartige Europäische Union vor französischen Einsprüchen zu sichern. Frankreich war eingekreist und blieb in seiner Bewegungsfreiheit für ein Jahrhundert eingeschränkt. Die Europäer gewöhnten sich an dieses Doppelreich „de los Austrias“, aus vielen Königreichen gebildet, welches sie vor den Folgen übermütiger Improvisationen der Könige von Frankreich bewahrte. Die alle Teile zusammenhaltende Mitte dieser imperialen Hausunion lag in Italien. Neapel und Sizilien gehörte zu den mit Spanien verbundenen Kronen, Mittel und Norditalien, das alte Reichsitalien, unterstand mehr oder weniger gründlich dem Kaiser, der von nun an dort vom spanischen König als Reichsvikar und Herzog von Mailand vertreten wurde. 

Karl V. ersann eine sehr kunstvolle Verklammerung der verschiedenen Machtkomplexe in der Absicht, die Ruhe Europas vor miteinander koordinierten osmanischen und französischen Eigenwilligkeiten zu schützen. Die Allerchristlichsten Könige von Frankreich standen schließlich im Bündnis mit den „Feinden des christlichen Namens“, um die Umklammerung durch böswillige Christen lockern zu können. Evangelische Sektierer und aufgeregte Protestanten redeten zwar bald in Deutschland von „hispanischer Servitut“ und diffamierten den katholischen Kaiser als Welschen und Spaniol. Karl V. gelang es nicht, die Lutheraner wieder mit der alten Kirche zu versöhnen. Er war kein religiöser Fanatiker, sondern dachte im Sinne des Erasmus von Rotterdam an einen friedlichen Ausgleich der Mißverständnisse auf einem allgemeinen Konzil. Damit scheiterte er, was ihn als Christen aufrichtig bekümmerte. 

Aber als Realpolitiker fügte er sich darein, daß sein Bruder Ferdinand, sein Stellvertreter im Reich und bald sein Nachfolger als Kaiser, 1555 einen Religionsfrieden vereinbarte, der Toleranz und Gleichberechtigung versprach. Es ist das Allerhöchste Kaiserhaus, das zuerst in Europa Toleranz gewährte. Karl V., der europäische Weltmonarch, war in Brüssel aufgewachsen. Ihm blieb immer bewußt, daß er als König oder Kaiser nur sehr vorsichtig in das Eigenleben der verschiedenen Kronländer eingreifen konnte. Trotz seines großen Sieges 1547 über die deutschen Protestanten fügte er sich allmählich darein, daß er dennoch alle Deutschen nicht dazu zwingen konnte, das gleiche zu glauben und zu denken.  

Ihm kam es darauf an, dennoch verschiedene Völker dieser europäischen Gemeinschaft miteinander enger vertraut zu machen und sie dazu zu befähigen, gemeinsame Aktionen zu unternehmen, um den Frieden in Europa zu erhalten oder sich türkischer Angriffe und französischer Intrigen zu erwehren. Karl V. ist mit dieser klugen Politik tatsächlich ein neuer Karl der Große geworden. Das Kaisertum, das er gerne mit der spanischen Hauptlinie auf immer verbunden hätte, blieb dem deutschen Zweig vorbehalten, aber künftige Kaiser, von Madrid aus bestimmt, und die Erzherzoge waren dazu verpflichtet, in familiärer Eintracht stets die Interessen der gesamten Hausunion zu wahren. Da die Kaiser auf spanisches Geld angewiesen waren, konnten sie keine Extravaganzen treiben und allzu eigensinnig werden. Sie mußten auf Weisungen aus Madrid hören, abhängig vom spanischen König als Chef des Hauses und Hüter der Einheit. 

Viele Reichsfürsten blieben von nun an – auch die Kurfürsten von Sachsen und Brandenburg – aufrichtig den Kaisern ergeben, da auf spanische Subventionen angewiesen und durch Erfahrung klug gemacht, daß sich für eigennützige Zwecke Vorteile nur im Zusammenhang mit dem Hause Österreich boten. Der Reichsadel wurde in weite Verbindungen gerückt, die Reichskirche blieb ohnehin auf den katholischen Kaiser angewiesen. Kurzum, das im Hause Österreich fest verankerte Kaisertum gewann seit Karl V. an Einfluß und damit an Macht. Es stabilisierte seitdem das Reich und seine Institutionen und überstand die vielen Kriege zwischen 1618 und 1648, denen ab 1672 fast ununterbrochen vierzigjährige Kriege mit Frankreich folgten, um das Reich als selbständige Größe davor zu bewahren, eine beliebige Verfügungsmasse für den französischen König zu werden. Nach dem Spanischen Erbfolgekrieg ab 1715 ist die Monarchie des Hauses Österreich eine deutsche und europäische Großmacht mit ihrem Zentrum in Wien, von Brüssel über Mailand bis nach Budapest und nach Siebenbürgen reichend. 

Immer die Unterschiede seiner Reichsteile achtend

Diese letzte Kaiser- und Reichsherrlichkeit aufgrund des Triumphes über Türken und Franzosen, von der heute noch die Kaisersäle in bischöflichen Residenzen und in den Reichsstiften an der Donau künden, gewährte der neuen Monarchie des Hauses Österreich, wie sie sich dann bis 1918 erhielt, einen prächtigen, beziehungsreichen Hintergrund. Sie vereinte, wie die frühere, von Karl V. geschaffene spanisch-deutsche Doppelmonarchie, Völker und Nationen, Kraft und Überlegenheit gewinnend aus dem Unterschied, der bunten Lebensfülle, dem jeweiligen Anderssein der Anderen. Das Haus Österreich sprach nicht vom einheitlichen Europa. Brüssel, mal spanisch, mal österreichisch, war seit Karl V. ein Symbol für pralles Leben, für Einigkeit und Vielfalt und nicht für Einfalt und Bevormundung, für planmäßige Gleichschaltung der Gleichen, die – wie Kaiser und Könige noch wußten – gar nicht gleich waren und einander überhaupt nicht angeglichen werden wollten.