© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/19 / 21. Juni 2019

Das grüne Herz Europas
Polesien: Tschernobyl überlebte die Region am Pripjat / Jetzt kommt die EU
Christoph Keller

Auch Europäern mit gesichertem geographischem Basiswissen beschert die Rede von Polesien gemeinhin Orientierungsprobleme. Nur wer mit Assoziationen zur ersten Silbe seinen Gedankenflug Richtung Osten lenkt, kommt vielleicht ohne Google auf die weitläufige Flußwildnis, die sich über Polen, Weißrußland, die Ukraine und Rußland erstreckt, an deren Rande die Sperrzone von Tschernobyl liegt.

Die Frankfurter Zoologische Gesellschaft (ZGF), die sich in dem weitläufigen Gebiet seit einigen Jahren mit Projektpartnern aus Weißrußland und der Ukraine im Landschafts- und Tierschutz engagiert, preist die urtümlichen Gefilde am 700 Kilometer langen Pripjat nicht zu Unrecht als „Amazonien Europas“ an.

Amazonien gewiß, allerdings ohne Regenwald, dafür mit einem Labyrinth aus Sümpfen, Nieder- und Durchströmungsmooren, die zu den größten intakten Mooren (und Kohlenstoffspeichern) Europas zählen. Umgeben von Seen, Inseln, Auenwäldern, Feuchtwiesen, Mäandern, Nebenflüssen und Altarmen des Pripjat.

Trotz starker Eingriffe, der die Natur hier einst hemmungslos ausbeutenden Sowjetmacht, sind bis heute auf 186.000 Quadratkilometern – einem Territorium halb so groß wie die Bundesrepublik – bedeutende Areale vom Menschen vollkommen unberührt geblieben. Darum beschleicht Elleni Vendras, wenn sie von ihrem ZGF-Stützpunkt in Minsk zu vierstündiger Fahrt in das Wasserparadies aufbricht, das Gefühl, auf Zeitreise zu gehen. So wie gegenwärtig am Pripjat müsse es am Rhein vor einigen Jahrhunderten ausgesehen haben, als Deutschlands längster Fluß noch „frei und ungehindert fließen durfte“ (Gorilla, 1-2019).

Vendras gerät ins Schwärmen, wenn sie den bedauernswerten, von Windparks umzingelten, zwischen Autobahnen eingepferchten Westeuropäern die unermeßliche Weite unberührter Natur vor Augen führt. In Polesien, in der wahren Wildnis, fühle sich auch der Wolf noch sicher und vermehre sich fast ungehindert. Fast, denn in Weißrußland, außerhalb der Pripjat-Region, gilt das Raubtier wie seit jeher als „Schädling“, auf den Jagd zu machen erlaubt ist.

Tschernobyl scheint weit weg; die Natur gedeiht

Noch vor dem Wolf steht ganz oben auf der Liste der Tiere, die als untrüglicher Indikator für „Wildnis“ im Wortsinne gelten, der Schelladler (Clanga clanga). Schätzungen zum weltweiten Bestand des störungsempfindlichen, schwer zu erforschenden Raub- und Zugvogels schwanken zwischen 5.000 und 13.000. Da „Fortschritt und Zivilisation“ auch und gerade im wirtschaftlich schwach entwickelten Weißrußland zu Lasten der Natur gehen, verschwand dort bis 2010 ein Viertel der Population. 80 Prozent des übriggebliebenen Bestandes – bis zu 160 Brutpaare – brüten heute in Polesien, wo ihnen letzte Rückzugsgebiete offenstehen.

Wolf und Adler sind „Flaggschiff-Arten“, mit denen Naturschützer Sympathien für den Erhalt jener Lebensräume werben, deren ungeheuer vielfältige Fauna sie anzeigen. So finden in ihrer Nähe mehrere große Säugetierarten wie Luchs, Elch und Wisent ihre Refugien. Sogar Braunbären werden wieder öfter gesichtet. Daß Polesien ein Vogel-Dorado ist, versteht sich ohnehin von selbst. Nirgendwo sonst in Mittel- und Osteuropa trifft man auf so erstaunliche Ansammlungen von Kampfläufern, Uferschnepfen und Pfeifenten wie in den Flußauen des Pripjat. Das Gros der Weltpopulation des Seggenrohrsängers ist in Polesien zuhause. Daneben gibt es beeindruckende Vorkommen von Doppelschnepfen, Terekwasserläufern, Sandregenpfeifern, Zwergseeschwalben. Und auch die Europäische Sumpfschildkröte ist mit einer stattlichen Population präsent.

Einen eher gespenstischen Eindruck von derart üppiger Naturfülle vermittelt ein Ausflug in ein weltberühmtes Areal, das als abgeriegelte Exklave lediglich geographisch zu Polesien gehört. Gemeint ist das 4.500 Quadratkilometer große Sperrgebiet rund um den 1986 havarierten Atommeiler von Tschernobyl. Michael Brombacher, Leiter des ZGF-Europaprogramms, schildert die nur halbtägige Exkursion in die für ausländische Wissenschaftler in der Regel unzugängliche Tschernobyl-Sperrzone, die ihm 2013 gewährt wurde, als so imponierend wie bedrückend.

Europäische Wasserstraße soll das Gebiet durchziehen

Der kurze Blick in die Todeszone, wo die Natur auf Jahrhunderte radioaktiv verseucht ist, bot Verwirrendes. Einerseits scheine sich die technische Katastrophe auf Pflanzen und Tiere positiv auszuwirken. Die Natur eroberte sich den Siedlungsraum, aus dem 116.000 Menschen über Nacht evakuiert wurden, im Eiltempo von 30 Jahren zurück. Überall hörte Brombacher den kullernden Ruf der Birkhühner, deren Balz begonnen hatte, und bereits nach wenigen Minuten Fahrt zeigten sich erste Wölfe und einge der etwa 2.000 Elche am Wegesrand. Sie seien wie Luchse, Rotwild, Damwild und Wildschweine genauso oft anzutreffen wie in unbelasteten Schutzgebieten der Region. Wölfe seien sogar siebenmal häufiger.

Andererseits: Was da heranwächst, darüber fehlt ein wissenschaftlich zuverlässiger Überblick. Mutationen im Genom vieler Arten sind nachweisbar. Erforscht wird, ob sie sich lediglich negativ auf die Lebenserwartung einzelner Individuen auswirken oder ob sich ganze Populationen verändern. Die Strahlenbelastung könnte durch Wanderungen auch aus der Sperrzone herausgetragen werden.Sicher ist nur, daß nach der atomaren Katastrophe ein wundersamer Prozeß natürlicher Sukzession abläuft. Wo die Landschaft bis 1986 von Siedlungen und Agrarflächen geprägt war, folgen Wälder und artenreiche Lebensräume. Zugleich tat sich ein riesiges Freilandlabor auf, um eine vom Menschen unbeeinflußte Landschaftsentwicklung zu studieren, was der Planung großer Renaturierungs- und Naturschutzprojekte zugute käme.

Auf unverhoffte Weise könnte sich die Atomkatastrophe auch anderweitig segensreich auswirken. Droht doch dem östlichen „Amazonien“ ein ökologisches Desaster der Extraklasse. Die Anrainerstaaten planen den Pripjat zur größten Wasserstraße Europas auszubauen, die Ostsee und Schwarzes Meer verbinden soll. Obwohl für diese schiffbare Handelsroute kein wirtschaftlicher Bedarf besteht, wird das in die Hydromorphologie einer 28-Millionen Einwohner-Region negativ eingreifende 12-Milliarden Projekt „E-40-Waterway“ mit EU-Unterstützung gegen den schwachen Widerstand der Umweltschützer forciert.

Abzublasen sei das hybride Unternehmen, worauf die Geographin Michelle Müller hinweist, wenn die Bevölkerung erführe, daß die Wasserstraße die Tschernobyler Sperrzone durchqueren soll und die Flußbegradigung das Risiko erhöht, radioaktiv kontaminierten Schlamm stromabwärts in den Kiewer Stausee einzubringen. „Dieser versorgt Millionen Ukrainer mit Trinkwasser“.

Kampagne gegen den E40-Wasserweg  stopE40.org