© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/19 / 28. Juni 2019

„Weil die Niederlage keine war“
War der Friede von Versailles nicht so schlecht wie sein Ruf, wie manche Historiker meinen? Nein, so Lothar Höbelt, aber: Nicht die deutsche, sondern Frankreichs Ohnmacht dokumentiere der Vertrag – das mit ihm Deutschlands heimlichen Sieg kompensieren wollte
Moritz Schwarz

Herr Professor Höbelt, was bitte sollte am Versailler Vertrag positiv sein, zumal es sich ja um ein Diktat gehandelt hat, was ihn moralisch doch bereits diskreditiert?

Lothar Höbelt: Für Fragen der Moral ist die Wissenschaft nicht zuständig. Die muß jeder selbst mit seinem Gewissen und seinem Gott ausmachen. Natürlich setzt sich bei Verhandlungen in der Regel der durch, der sich momentan in der stärkeren Position befindet. Das ist eine Binsenweisheit. Eine vielgerühmte Ausnahme stellt da allenfalls der Wiener Kongreß 1815 dar, weil das besiegte Frankreich damals bereits wieder als Verbündeter umworben wurde.

Allerdings hat doch gerade der sogenannte Kriegsschuldparagraph – also eben der moralische Teil des Vertrags –, der Deutschland die Alleinschuld am Krieg zuschob, damals eine besonders große Rolle gespielt.   

Höbelt: Ja – tatsächlich aber war er nur ein Art Zivilrechtsklausel, um die materiellen Ansprüche zu rechtfertigen: Da ging es nicht um Kriegsschuld, sondern um Kriegsschulden. Um die abzuzahlen, brauchten die Franzosen von Deutschland dringend Reparationen. Das selbstverständliche Recht souveräner Staaten, Krieg zu führen, wäre aber gerade von den Franzosen sicher nicht in Frage gestellt worden. Allenfalls der damalige US-Präsident Woodrow Wilson wollte es durch den Völkerbund einschränken, aber das war Zukunftsmusik.  

Daß der Vertrag nicht den Frieden sichern, sondern Deutschland unterdrücken sollte, darüber empörten sich damals selbst Kommentatoren auf alliierter Seite moralisch. 

Höbelt: Richtig, aber moralische Empörung ist eben kein sehr verläßliches Instrument der Analyse. Das aus Sicht Frankreichs so gefährliche Deutschland war immer noch da: „Versailles“ entsprang einem französischen Sicherheitsbedürfnis, das auch der Kriegsausgang nicht befriedigt hatte. 

Dem allerdings erhebliche nationalistische Rachegelüste Frankreichs beigefügt waren.

Höbelt: Da laufen wir Gefahr, in die modische Unsitte zu verfallen, politische Bewegungen auf simple Emotionen zu reduzieren, Sozialismus auf „Neid“ oder Zuwanderungsskepsis auf „Fremdenhaß“. Nein, Frankreich war 1918 längst nur mehr eine Pseudogroßmacht, die auch dem geschlagenen Deutschland auf Dauer nicht Paroli bieten konnte. Die Bestimmungen des Vertrags sind nicht ein Ausdruck französischer Hybris, sondern ganz im Gegenteil ein Signal von Schwäche. Es erwies sich ja auch umgehend, daß Versailles nicht geeignet war, das zu leisten, was Frankreich sich davon versprach – im Prinzip war Paris bereits 1923/24 mit seiner Politik gescheitert. 

Inwiefern? 

Höbelt: Weil Deutschland mit der Zahlung von Reparationen im Verzug war, besetzten französische und belgische Truppen damals das Ruhrgebiet. Deutschland antwortete mit einem Generalstreik und zahlte gar nicht mehr. Frankreich ging pleite und mußte durch private US-Kredite gerettet werden – dafür aber versprechen, in Europa künftig keine Unruhe mehr zu stiften. Damit war der Versailler Vertrag als Basis möglicher französischer Interventionen, die einen Wiederaufstieg Deutschlands hätten verhindern können, schon damals gescheitert. Daraufhin begann Frankreich mit dem Bau der Maginotlinie, ein massives Verteidigungswerk entlang der Grenze zu Deutschland. Das unfreiwillige Signal für alle war: der Wechsel der französischen Sicherheitspolitik weg von der Offensive, wie sie der Versailler Vertrag ermöglichen sollte, hin zur Defensive. Der britische Historiker A.J.P. Taylor hat das so kommentiert: „Die Maginotlinie schützte Frankreich – noch mehr aber Deutschland.“    

Im Osten allerdings schmiedete Frankreich auf Grundlage des Versailler Vertrags weiter Pläne gegen Deutschland. 

Höbelt: Da kommen wir zu dem Punkt, daß bis heute oft verwechselt wird, was Folge des Vertrags und was Folge des Krieges war. In Mittel- und Osteuropa war das entscheidende Moment der Zerfall Österreich-Ungarns. Diese Auflösung in seine nationalen Bestandteile war aber nichts, was erst in Versailles oder St. Germain ausgeheckt wurde. Sobald die Monarchie den Krieg verlor, setzten die Eliten (fast) aller ihrer Völker auf die Unabhängigkeit. Niemand hätte da etwa die Tschechen zwingen können, in der Monarchie zu verbleiben, um des europäischen Gleichgewichts willen. Man konnte da ein wenig an den Grenzen feilen, aber nicht am Grundkonzept. Die Verträge haben diese Entwicklung nur nachvollzogen und ratifiziert.

Was aber hat das mit der französischen Kabale gegen das Reich im Osten zu tun? Etwa die Abspaltung Danzigs oder Oberschlesiens gegen den Willen des Volkes.

Höbelt: Auch hier scheiterte Frankreich mit seinem Maximalprogramm, genauso wie im Rheinland. Das begann schon damit, daß die Briten gegen den Willen der Franzosen Volksabstimmungen in Masuren und Oberschlesien durchsetzten und sich die Mehrheit dort für einen Verbleib bei Deutschland entschied – auch wenn das in Schlesien dann noch einmal zugunsten Polens korrigiert wurde. Deutschland hat 1919 etwa ein Zehntel seiner Bevölkerung verloren – wovon aber nicht alle Deutsche waren. Und natürlich die Kolonien, die bei aller Romantik ja doch immer nur Geld gekostet hatten. Das waren Verluste, nicht zu vergleichen mit jenen Preußens 1806 oder mit dem, was Deutschland 1945 einbüßte. Entscheidend ist aber etwas anderes, daß nämlich all diese schmerzhaften Einbußen das Faktum nicht aus der Welt zu schaffen vermochten, daß Deutschland den Ersten Weltkriegs eigentlich doch noch gewonnen hat.

Wie bitte?

Höbelt: Die Sieger USA und Großbritannien hatte der Krieg viel Geld gekostet, gewonnen aber hatten sie in Europa nichts. Frankreich gewann zwar das kleine Elsaß-Lothringen – verlor aber seine wichtigste sicherheitspolitische Position gegenüber dem Erzfeind Deutschland: Nämlich seinen alten Bundesgenossen Rußland, mit dem es das Reich in einer Zwei-Fronten-Situation in Schach halten konnte. An dessen Stelle traten als neue Verbündete nun Polen und die CSR, die beide aber kein Ersatz für Rußland waren. Das fand sich dagegen plötzlich an der Seite Deutschlands wieder – weil wie dieses international geächtet, allerdings wegen des Kommunismus. Dabei war Rußland 1914 Berlins großer Angstgegner: ein kontinentaler Koloß, der, wenn er sich einmal voll entwickelt hatte, Deutschland langfristig wie eine Dampfwalze zu überrollen drohte. Aber zur Überraschung aller schlug Deutschland 1917 Rußland. Doch eben dieser deutsche Sieg – fixiert im Frieden von Brest-Litowsk – wurde im Versailler Vertrag nicht etwa aufgehoben, sondern indirekt bestätigt – und damit Rußlands massive Schwächung. Ergebnis des Krieges ist also: der „Sieger“ Frankreich verliert seinen wichtigsten Verbündeten und damit seine Rückversicherung gegenüber Deutschland, der „Verlierer“ Deutschland dagegen seinen Hauptfeind – ja, es gewinnt ihn sogar als potentiellen Bundesgenossen! Künftig war Deutschland in der komfortablen Lage, es sich aussuchen zu können, ob es sich mit Polen gegen Rußland verbünden wollte oder, wie 1939, mit Rußland gegen Polen. Während Deutschland also seinen Alptraum los war, litten von nun an die Sieger unter einem solchen: einem deutsch-russischen Zusammengehen. 

Dafür hatte Deutschland aber seinen Verbündeten Österreich-Ungarn verloren. 

Höbelt: Stimmt. Allerdings erwiesen sich dessen Nachfolgestaaten, mit Ausnahme der auf allen Seiten von Feinden umgebenen CSR, ebenfalls als potentielle Verbündete. Deutschland hatte auch hier immer die Wahl: Entweder mit Ungarn zu gehen oder mit Rumänien, mit Jugoslawien oder mit Italien, im Idealfall hin und wieder eine Zeitlang sogar mit beiden. Und was Österreich betrifft: Solange man sich gut verstand, war es strategisch völlig gleich, ob das Land jetzt Teil des Deutschen Reiches war oder nicht. Probleme gab’s da allenfalls bei der Zoll- und Finanzpolitik.

Wie kam es denn dazu, daß der gegen Deutschland gerichtete Vertrag ausgerechnet diesem all diese Möglichkeiten bot? 

Höbelt: Weil die Versailler Ordnung im Osten auf Sand gebaut war, da keine Macht sie garantierte: Die USA hatten sich beleidigt aus Europa zurückgezogen und waren nur daran interessiert, wenigstens einen Teil des Geldes wiederzubekommen, das sie ihren Alliierten im Krieg geborgt hatten. Und die Briten garantierten die Versailler Ordnung nur bis zum Rhein. Der britische Premier Lloyd George hielt zum Beispiel den Polnischen Korridor von Anfang an für einen Fehler. Er war ihm bloß keinen Streit mit Frankreich wert. Und Austen Chamberlain schrieb 1925 als Außenminister in Anspielung auf ein Bismarck-Wort, der Korridor sei nicht die Knochen auch nur eines britischen Grenadiers wert. Übrigens war es ausgerechnet dessen Halbbruder Neville Chamberlain – der bekanntlich bis heute als der Appeasement-Politiker schlechthin geschmäht wird –, der als Premierminister 1939 erstmals in Erwägung zog, für Polen doch eine Garantie abzugeben. 

Warum interessierten die Briten die Vertragsregelungen im Osten nicht wirklich? 

Höbelt: Für sie war die Sicherheit im Westen entscheidend, Stichwort: Vertrag von Locarno, in dem sich 1925 die Westmächte mit Deutschland auf die Unantastbarkeit der Grenzen im Westen einigten – während sich Berlin eine friedliche Revision der Ostgrenze vorbehielt. Also: Alles was Hitler in den dreißiger Jahren an Revisionen gelang, war von den Briten im Grunde bereits zuvor zugestanden worden – nur sollte sich die Revision evolutionär vollziehen. England wollte Frankreich mit Locarno ein Gefühl der Sicherheit geben, eben damit es sich nicht mehr so sehr auf seine osteuropäischen Klientelstaaten einließ. 

Wenn die Entwicklung nach Abschluß des Vertrags für Deutschland so positiv war, weshalb wurde das damals nicht erkannt?

Höbelt: Dazu muß man vielleicht in erster Linie die Verlaufskurve des Ersten Weltkriegs in Betracht ziehen. Im Vergleich dazu erst mal die des Zweiten: Bis 1942 gewannen die Achsenmächte, und dann verloren sie wieder alles – ein Auf und Ab wie im klassischen Drama. Im Ersten Weltkrieg dagegen war bis kurz vor Kriegsende völlig unklar, wer gewinnen würde. Noch bis zum 8. August 1918, dem „Schwarzen Tag des deutschen Heeres“, ging man in Deutschland von einem Sieg, bestenfalls von einem ehrenvollen Remis aus. Und als am 11. November der Waffenstillstand unterschrieben wurde, stand das deutsche Heer immer noch in Frankreich, nicht etwa das französische in Deutschland. Sogar die Westmächte waren überrascht, daß der Krieg schon 1918 endete. Und dann plötzlich: Ende der Monarchie, Novemberrevolution, Straßenkämpfe, Zusammenbruch der alten sozialen Ordnung, galoppierende Inflation. Die ganze Gesellschaft wurde in einem Ausmaß durcheinandergewirbelt, das zuvor unvorstellbar war. Dazu kam das bodenlose Gefühl, daß sich alle Anstrengungen und Opfer der letzten vier Jahre als vergeblich herausstellten. Diese dramatische Gefühlslage ließ völlig übersehen, daß die militärische Niederlage strategisch gar keine war – im Gegenteil. 

Also stimmt die These doch, daß der Vertrag so schlecht nicht war? 

Höbelt: Doch, er erwies sich als „schlecht“, aber nicht weil er ungerecht war, sondern weil er sich als unhaltbar entpuppte und keine stabile Ordnung begründete. Er vermochte das paradoxe Resultat des „Großen Krieges“, wie die Briten den Ersten Weltkrieg nennen, nicht zu bewältigen: Der militärische Verlierer als strategischer Sieger sowie die Absenz des eigentlichen Siegers, der USA. Ein österreichischer Aristokrat antwortete 1919 auf die Frage, ob Deutschland den Versailler Vertrag unterschreiben sollte: Natürlich, weil er ja ohnedies unausführbar sei. Das trifft den Nagel auf den Kopf. 

Und daß er ein ungerechter Friedensvertrag war, das spielt keine Rolle?  

Höbelt: Vergleichen Sie „Versailles“ mit der Potsdamer Konferenz 1945: Waren deren Beschlüsse vielleicht gerechter? Nein, denken Sie nur an Polen, für das man ursprünglich in den Krieg gezogen und das jetzt der UdSSR ausgeliefert war. Potsdam aber schuf Stabilität, weil hinter dieser Ordnung zwei Weltmächte standen. Zumindest für Westeuropa winkte als „Friedensdividende“ außerdem sogar Wohlstand. Nach 1919 schlug die mangelnde Stabilität hingegen auf die Wirtschaft zurück: Die Restauration der liberalen Welt der Vorkriegszeit, in der es Sicherheit des Eigentums, Freihandel und stabile Währungen gab, mißlang. Rezessionen wird es immer geben, aber daß die Krise von 1929 so katastrophale Auswirkungen hatte, dafür war die „unbewältigte Vergangenheit“ des Krieges in wirtschaftlicher Hinsicht in einem hohen Maß verantwortlich. Die europäischen Kleinstaaten betrieben Autarkiepolitik und die Großen bürdeten dem Finanzsystem mit den Reparationen eine gewaltige Hypothek auf. Der Erste Weltkrieg wird zu Recht als die „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Vielleicht war es einfach zuviel verlangt, daß ein Friedensvertrag – ob „gut“ oder „schlecht“, großzügig oder kleinlich – das alles wieder einrenken sollte.






Prof. Dr. Lothar Höbelt, ist außerordentlicher Professor für Neuere Geschichte in Wien sowie Vortragender an der Theresianischen Militärakademie. Er lehrte als Gastdozent an mehreren US-Universitäten und veröffentlichte zahlreiche Bücher. Geboren wurde der Neuhistoriker 1956 in Wien.

Foto: Protest gegen den „Diktatfrieden“ 1919 (Bild aus dem Buch „Deutsche Geschichte für junge Leser“): „Daß eigentlich sie den Krieg gewonnen hatten, haben die Deutschen übersehen“

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