© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/19 / 28. Juni 2019

Der Gewalt weichend
Vor 100 Jahren unterschrieb Deutschland das Diktat von Versailles – unter Protest: Auf Demütigung folgte Radikalisierung
Karlheinz Weissmann

Otto Braun antwortete auf die Frage nach dem Scheitern der Weimarer Republik knapp mit: „Versailles und Moskau“. Der Sozialdemokrat Braun war in der Weimarer Republik über mehr als ein Jahrzehnt Ministerpräsident Preußens. „Moskau“ nutzte er als Chiffre für die dauernde Subversion des kommunistischen Lagers, das den Staat von außen wie von innen zu zerstören suchte, „Versailles“ für die ungeheure Belastung der jungen Demokratie mit einem Friedensvertrag, der diesen Namen nicht verdiente. Während seiner Zeit im Exil ab 1933 notierte Braun: „Tatsächlich wurde im Mai 1919 in Versailles die Axt an die Wurzel der Weimarer Republik gelegt und die Giftsaat des neuen Nationalismus in den deutschen Boden gesenkt. Sie ging auf, wurde durch andauernde aus dem Versailler Diktat hergeleitete Quälereien befruchtet, brachte die Weimarer Republik zum Erliegen und überwuchert heute nicht nur Europa, sondern die ganze Welt …“

Diese Einschätzung war wie Brauns Kritik des Vorwurfs der deutschen „Alleinschuld“ am Kriegsausbruch und der „Unerfüllbarkeit des Versailler Diktats“ lange konsensfähig, wenn es um die Klärung der Frage ging, wie Hitler möglich war. Aber die heutige Historiographie will davon wenig wissen. Wenn auch die Stimmen leiser geworden sind, die darauf beharren, daß Deutschland den Ersten wie den Zweiten Weltkrieg zu verantworten habe, ist man sich doch weitgehend einig, daß der Versailler Vertrag Chancen für eine konstruktive Zusammenarbeit geboten habe und der Begriff „Diktat“ schon deshalb zu meiden sei, weil er von Ewiggestrigen und Revisionisten genutzt werde. Mit Hilfe dieser Argumentation läßt sich dann auch gleich der von Braun gesehene Zusammenhang zwischen den Forderungen der Sieger und dem Nationalismus der Besiegten übergehen und der Erfolg Hitlers schlicht den fatalen Konsequenzen des deutschen Sonderwegs zuschlagen.

Ausgeblendet werden bei dieser Art der Deutung vor allem die psychologischen Wirkungen, die das Bekanntwerden der alliierten Bedingungen in der Bevölkerung haben mußte. Hatten die Deutschen eben noch geglaubt, daß ein neues Zeitalter der Menschheitsverbrüderung und des Weltfriedens anbreche, und in dem amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson etwas wie einen Messias gesehen, wurden sie nun mit einer brutalen politischen Wirklichkeit konfrontiert, in der nichts galt als die Macht der einen und die Ohnmacht der anderen Seite. Erschwerend kam hinzu, daß die hochmoralische Attitüde der Amerikaner, Briten und Franzosen als Täuschung durchschaubar wurde.

„Vergewaltigt wie            kein Volk je zuvor“

Der Außenminister Ulrich von Brockdorff-Rantzau sprach sogar von einer „Kriegslist“, mit der man die Deutschen am Beginn der Waffenstillstandsverhandlungen in eine Falle gelockt habe. Die von ihm geführte Delegation bei den Gesprächen in Paris erklärte nach ihrer Rückkehr denn auch in einem Memorandum für die Reichsregierung, daß der Friedensvertrag abgelehnt werden müsse: Der Inhalt sei „unaufrichtig“, „unerträglich“, „unerfüllbar“. Friedrich Ebert als Reichspräsident schloß sich dieser Argumentation an und konnte nur mit einiger Mühe vom Rücktritt abgehalten werden.

Im Kabinett selbst war keine Einigkeit über das weitere Vorgehen zu erzielen. Daraufhin legten Philipp Scheidemann als Ministerpräsident und Brockdorff-Rantzau am 20. Juni 1919 ihre Ämter nieder. Die neue Regierung bildete Gustav Bauer, wiederum ein Sozialdemokrat, aus Vertretern der MSPD und des Zentrums; die DDP verließ die Koalition. Bauer erreichte die Zustimmung der Nationalversammlung zur Unterzeichnung des Vertrages erst, nachdem sich die Mehrheit der MSPD- und Zentrumsabgeordneten für die Annahme entschied. Allerdings unter der Bedingung, daß ein letztes Mal versucht werden sollte, die Aufhebung des Kriegsschuldartikels im Vertragstext und der Forderung nach Auslieferung von „Kriegsverbrechern“ zu erreichen.

Aber die Sieger lehnten ein solches Ansinnen entschieden ab und verschärften ihre Drohung mit militärischen Maßnahmen. Unmittelbar darauf kam es in Deutschland zu Massenprotesten: Vor dem Reichstag sammelten sich aus Empörung mehr als 200.000 Menschen, in Magdeburg kamen 40.000 zusammen, Schüler zogen wie 1914 mit schwarz-weiß-roten Fähnchen durch die Straßen und sangen „Die Wacht am Rhein“. In Berlin drangen Studenten in das Zeughaus ein und trugen Beutefahnen des Krieges von 1870/71 heraus, deren Rückgabe Frankreich verlangt hatte, und verbrannten sie vor dem Denkmal Friedrichs des Großen. Nachdem Freikorpsführer erklärt hatten, daß sie für den Fall der Unterzeichnung des Vertrages – der die Auslieferung von Offizieren vorsah – ihren Dienst quittieren würden, erließ Gustav Noske als Reichswehrminister einen Aufruf in dringendem Ton, das Vaterland angesichts seiner Not nicht zu verlassen.

Unmittelbar darauf erklärte Bauer in der Sitzung der Nationalversammlung vom 23. Juni, daß Deutschland das Diktat der Sieger unterzeichnen müsse, ohne Vorbehalt, aber unter Protest, wohl wissend: „hier wird ein besiegtes Volk an Leib und Seele vergewaltigt wie kein Volk je zuvor.“ Daraufhin unterstützten MSPD und Zentrum mehrheitlich den Antrag auf Unterzeichnung. Die USPD schloß sich an, aber deren Vorsitzender Hugo Haase konnte der Versuchung nicht widerstehen, noch einmal die ganze Polemik seiner Partei gegen die kaiserliche wie die republikanische Regierung zu entfalten. Die Links- und die Nationalliberalen von DDP und DVP, die gegen die Annahme stimmten, erkannten die Ehrenhaftigkeit der Motive der Zustimmungsbereiten ausdrücklich an; die DNVP billigte wenigstens die Gewissensentscheidung jedes Abgeordneten.

Nach acht Wochen vergeblicher Anstrengungen schickte der neue Außenminister Hermann Müller 90 Minuten vor Ablauf des Ultimatums der Sieger ein Telegramm an den französischen Regierungschef Georges Clemenceau, dessen letzter Satz lautete: „Der übermächtigen Gewalt weichend und ohne damit ihre Auffassung über die unerhörte Ungerechtigkeit der Friedensbedingungen aufzugeben, erklärt deshalb die Regierung der Deutschen Republik, daß sie bereit ist, die von den alliierten und assoziierten Regierungen auferlegten Bedingungen anzunehmen und zu unterzeichnen.“

Kurz darauf entsandte die Reichsregierung Müller und den Verkehrsminister Johannes Bell nach Versailles. Die Unterzeichnung fand im Spiegelsaal des Schlosses statt. Dort, wo 1871 das Bismarckreich gegründet worden war, sollte es zugrunde gehen. Als deutsche Vertreter setzten Müller und Bell am 28. Juni 1919 ihre Unterschriften unter das Dokument, dann folgten die Vertreter der Alliierten und Assoziierten Mächte, deren Zahl mittlerweile auf 27 angewachsen war. Müller und Bell hatten eigens Füllfederhalter mitgebracht, da in der Presse das Gerücht umlief, Clemenceau habe als neuerliche Demütigung Stifte bereitlegen lassen, die aus Mitteln einer patriotischen Spende von Kolonialfranzosen sowie „befreiten“ Elsässern und Lothringern gekauft worden seien.

Die Überzeugung, daß der Friede letztlich ein „Clemenceau-Friede“ sei, der das Ziel einer dauerhaften Zerschlagung Deutschlands zwar nicht vollständig, aber zu einem erheblichen Teil erreicht hatte, war allgemein. Und die fatalen Konsequenzen wurden auch auf alliierter Seite deutlich gesehen. So hatte Tasker Bliss, der militärische Berater Wilsons, schon am 25. März 1919 geäußert, daß jedem klar sein müsse, welche Folgen sich aus den Gebietsabtretungen ergäben, zu denen man die Deutschen im Osten zwinge: „Ich kann mir keinen besseren Grund für künftige Kriege vorstellen, als wenn das deutsche Volk, das sich sicherlich als eine der kräftigsten und machtvollsten Rassen in der Welt erwiesen hat, von einer Anzahl kleiner Staaten umschlossen würde, von denen viele aus Völkern gebildet sind, die vorher nie selbständig eine dauerhafte Regierung gebildet haben, deren jedes aber breite Massen Deutscher umfaßt, die nach einer Wiedervereinigung mit ihrem Geburtslande lechzen. Der Vorschlag der polnischen Kommission, wir möchten zwei Millionen einhunderttausend Deutsche unter die Herrschaft eines Volkes bringen, das eine andere Religion besitzt und das nie, während seiner ganzen Geschichte, die Fähigkeit zu einer starken Selbstregierung bekundet hat, muß nach meinem Urteil über kurz oder lang zu einem neuen Krieg im Osten führen.“

Umschlag der Gesinnungen ins Nationalistische

Die Argumentation von Bliss ähnelte derjenigen, die General Jan Christiaan Smuts, der der Delegation des britischen Premiers Lloyd Georges angehörte und alles andere als deutschfreundlich war, in einem Memorandum vom 22. Mai 1919 entwickelte. In dem kritisierte er nicht nur die dauerhafte Besetzung der Rheinzone und die vorübergehende des Saargebiets scharf, sondern protestierte auch gegen die Höhe der Reparationen, die erzwungene Abrüstung, die Politik der „Nadelstiche“ zwecks Demütigung der Deutschen und die Festlegung der Grenze zu Polen. Seiner Meinung nach handelte es sich bei der Schaffung des sogenannten Korridors um einen „politischen Kardinalfehler“, der möglicherweise zu einem neuen Krieg führen werde.

Die grundsätzlichste Kritik des Vertragswerkes auf alliierter Seite stammte allerdings von dem britischen Ökonomen John Maynard Keynes, der als Wirtschaftsfachmann in Versailles gewesen war, bis er die Konferenz aus Empörung über den Ablauf der Verhandlungen verließ. In seiner 1919 erschienenen Stellungnahme hieß es, der Vertrag diene faktisch der „Versklavung Deutschlands für ein Menschenalter, der Erniedrigung von Millionen lebendiger Menschen und der Beraubung eines ganzen Volkes“, was zwangsläufig zu haßerfüllten Reaktionen der Gedemütigten und furchtbaren Folgen für Europa führen werde.

Um das zu sehen, mußte man kein Prophet sein. Auch nachdem die Nationalversammlung am 9. Juli 1919 den Versailler Vertrag ratifiziert hatte, verstummten die Proteste nicht. Was aber schwerer wog, war die Tatsache, daß sich das politische Klima in Deutschland rasch und dramatisch verändert hatte. Der Theologe Ernst Troeltsch, einer der einflußreichsten liberalen Beobachter des Zeitgeschehens, sprach von einer „Welle von rechts“. Er bezog sich damit auf einen Vorgang, der seiner Meinung nach dem typischen Ablauf von Revolutionen entsprach. Deren Radikalität erlösche Stück für Stück, bis der Wunsch nach Ruhe und Ordnung in der Bevölkerung die Oberhand gewinne und sich eine restaurative Tendenz anbahne. Deren Hauptursache sei „allgemeine Enttäuschung“. Aber den einfachen Rückgriff auf konservative Traditionen werde es im deutschen Fall nicht geben. Hier entstehe eine neuartige Bewegung, vor allem in den Städten, getragen von bürgerlichen oder ehemals bürgerlichen Schichten. Für viele Gebildete, vor allem diejenigen, die als Offiziere gedient hätten, sei die Demütigung durch Niederlage und Umsturz nach wie vor lebendig. Deshalb greife man so begierig die Legende auf, daß der Zusammenbruch nicht der Übermacht der Feinde und eigener Ermattung, sondern einem Komplott im Inneren des Landes zuzuschreiben sei.

Troeltsch fürchtete die übelsten Konsequenzen aus dem Auftreten dieser Tendenz, angesichts des „Kultur- und Moralkrieges“, den die Feindstaaten weiter gegen Deutschland führten. Aber er wußte auch sehr genau, daß die Affekte, die hier wirksam wurden, sich kaum bändigen ließen, nach einem Friedensschluß, dessen Konsequenz er selbst an anderer Stelle als „verhüllte Fremdherrschaft“ bezeichnet hatte, und deren Wirkung sich nun auch in einem irritierenden Umschlag der Gesinnungen bemerkbar machte: „Sprach man vor einem Jahre vor Studenten“, schrieb Troel­tsch Ende 1919, „so mußte man sich auf wilde pazifistische, revolutionäre, ja idealistisch-bolschewistische Widersprüche gefaßt machen; heute muß man auf antisemitische, nationalistische, antirevolutionäre Einsprüche sich einrichten.“