© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/19 / 28. Juni 2019

Kampagnen gehen nach hinten los
Türkei: Im zweiten Wahlgang erobert CHP-Politiker Imamoglu Istanbul / Kurden vertrauen seiner Politik der ausgestreckten Hand
Paul Leonhard

Der Wahlkampfslogan „Her sey çok güzel olacak“ war geradezu genial. Jetzt aber muß Ekrem Imamoglu beweisen, daß mit ihm als Oberbürgermeister von Istanbul tatsächlich „alles gut wird“. 

Es ist der zweite Sieg des Kandidaten der Mitte-Links-Partei CHP,  nachdem dieser bereits Ende März mit einem knappen Vorsprung von 14.000 Stimmen gewonnen hatte. Die Wahl war später auf Antrag der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), die unter enormem Druck ihres Koalitionspartners, der rechtsextremen Nationalistischen Aktionspartei (MHP) stand, einen Sieg der Opposition in Istanbul zu verhindern, vom Hohen Wahlausschuß (YSK) annulliert worden.

Daß Imamoglu sich auch in einer erneuten Wahl gegen den Kandidaten der regierenden islamisch-nationalistischen Partei AKP, Binali Yildirim, durchsetzen würde, galt am Wahlsonntag alles andere als gewiß. Letztlich stimmten dann 4.741.870 der Wahlberechtigen in Istanbul für den 49ährigen. 3.935.444 für seinen Widersacher. 

Hoffen auf einen friedlichen Wandel

In der Türkei wiederholte sich damit ein Phänomen, das bereits von den Wahlen in ost- und mitteleuropäischen Ländern bekannt ist: Eine Mehrheit der Wähler liebäugelt mit unverbrauchten Kandidaten, die als Außenseiter gelten. Aus Sicht des Demoskopen Bekir Agirdir vom Meinungsforschungsinstitut Konda – dieses hatte Imamoglu bei 54 Prozent und Yildirim bei 45 Prozent gesehen, was exakt dem späteren Ergebnis entsprach – habe auch die Annullierung der ersten Wahl das Gerechtigkeitsempfinden vieler Menschen verletzt. 

Zusätzlichen Auftrieb bekam der Kandidat der Opposition, als Nurettin Canikli, stellvertretender Vorsitzender der AKP, versuchte, den aus der Provinz Trabzon stammenden Imamoglu als Griechen zu diffamieren: „Du solltest beweisen, daß dein Geist, dein Herz und deine Gedanken bei der türkischen Nation sind.“ Durch diese Kampagne fühlten sich Hunderttausende Istanbuler, die vom Schwarzen Meer stammten, ebenfalls angegriffen.

Dazu kommt, daß Imamoglu als frommer Muslim neben der säkularen auch eine konservative Wählerschaft anspricht und die Kurden als Königsmacher für sich gewinnen konnte. 

Zwei Tage vor dem Urnengang hatte die Kurdische Volkspartei (HDP) bekanntgegeben, daß sich ihre Strategie zur Unterstützung der Opposition bei den Bürgermeisterwahlen am Sonntag in Istanbul nicht geändert habe. Kurz zuvor, so die türkische Internet-Zeitung Diken, hatte der inhaftierte Führer der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) Abdullah Öcalan die Kurden aufgefordert, „unparteiisch“ zu bleiben. Dem widersprach Selahattin Demirtas, der inhaftierte ehemalige Co-Vorsitzende der HDP, und forderte die kurdischen Wähler auf, für Imamoglu zu stimmen.

Im Gegensatz zu dem früheren Ministerpräsidenten Yildirim präsentiert sich Imamoglu als bodenständiger und zupackender Politiker, aber auch als Shooting-Star auf der großen Bühne.  Wie Präsident Recep T. Erdogan aus der konservativen Schwarzmeer-Region stammend, stieg er in kurzer Zeit vom unbekannten Bürgermeister des Istanbuler Stadtbezirks Belikdüzü zum landesweit bekannten Hoffnungsträger der Republikanischen Volkspartei CHP auf. 

Im Wahlkampf hatte der Oppositionspolitiker den Fokus auf soziale Probleme wie Arbeitslosigkeit, Kinderbetreuung, hohe Lebenshaltungskosten sowie die Korruption in der türkischen Metropole  gerichtet.  

Die Vorschußlorbeeren für Imamoglu  sind groß, aber auch die Herausforderungen. Vieles wird davon abhängen, wie der Stadtrat, in dem die AKP die Mehrheit hat, mit dem neuen Oberbürgermeister zusammenarbeitet. Dazu kommt, daß die Strukturen in der Stadt, die seit einem Vierteljahrhundert von der AKP regiert wird, verkrustet sind. 

Diesem „System der Verschwendung“ hat Imamoglu  den Kampf angesagt. Er werde dafür sorgen, daß die Verwaltung nicht länger „gewissen Individuen, Vereinen, Stiftungen und Gemeinschaften“ dient. Mit seiner pragmatischen Herangehensweise, den angekündigten politischen Reformen und seiner Botschaft der Toleranz und der ausgestreckten Hand erinnert der neue Politikstar viele an den frühen Erdogan in den ersten Jahren nach dem Regierungsantritt der AKP 2002.

Auch deswegen sehen Unzufriedene in Imamoglu bereits den künftigen Präsidenten und hoffen, daß ein friedlicher politischer Wandel in dem zunehmend autokratisch regierten Land möglich wird. Wahlen sind allerdings erst 2023.