© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/19 / 28. Juni 2019

Die Rechnung geht nicht mehr auf
Von einer SED-Mitläuferin ins Kanzleramt: Angela Merkels Opportunismus hat sich erschöpft
Ralf Georg Reuth

Hubertus Knabe, der ehemalige Direktor der Stasi-Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, hat kürzlich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen Beitrag über die DDR-Vergangenheit der Bundeskanzlerin geschrieben. Er räumt darin mit seit langem im Internet kursierenden Behauptungen auf, wonach Angela Merkel unter dem Decknamen „Erika“ als Inoffizielle Mitarbeiterin (IM) für den Staatssicherheitsdienst der DDR tätig gewesen sei. Stasi-Unterlagen mit Berichten einer solchen Informantin aus dem Umfeld Merkels seien bisher nicht aufgetaucht, konstatiert Knabe, um im selben Atemzug subtil eine Reihe bereits veröffentlichter Ungereimtheiten aus dem „ersten Leben“ der Angela Merkel aufzulisten und damit neue Verdächtigungen gegen sie in die Welt zu setzen.

Da die Aktenbestände der Stasi-Unterlagenbehörde gefleddert worden sind und das Wenige, was zu Angela Merkel, geborene Kasner, dort vorliegt, nicht zugänglich ist, wird es eine endgültige Klärung des Sachverhaltes wohl nicht mehr geben. Insofern ist eine Fortsetzung der Diskussion über eine eventuelle Stasi-Verstrickung Merkels unergiebig und letztendlich auch irrelevant. 

Ganz anders verhält es sich mit der politischen Positionierung Angela Merkels in der DDR. Hier lassen sich besonders für die Endphase des sozialistischen deutschen Staates bemerkenswerte Wendungen festmachen, die als Schlüssel zum Verständnis der mit Blick auf ihre Partei, auf das Land und auf Europa so desaströsen Politik der Bundeskanzlerin dienen können.

Nach allem, was wir wissen, ist die Tochter des evangelischen Pfarrers Horst Kasner, den die Begeisterung für den real-existierenden Sozialismus dazu veranlaßt hat, zu Beginn der fünfziger Jahre von der Bundesrepublik in die DDR überzuwechseln, eine angepaßte Par-teigängerin des SED-Staates gewesen. Zu Zeiten, in denen sich Pfarrerstöchter in aller Regel noch von den Massenorganisationen fernhielten, tat sie sich als Schülerin bei den Jungen Pionieren und dann in Leitungsfunktionen bei der Freien Deutschen Jugend (FDJ) hervor. Ihr diesbezügliches Engagement und ihr offenbar gefestigter Klassenstandpunkt ermöglichten ihr nicht nur das Studium der Chemie in Leipzig, sondern im Anschluß daran auch eine Tätigkeit am Zentralinstitut für Physikalische Chemie (ZIPC) der DDR-Akademie der Wissen-schaften in Berlin-Adlershof. 

Es gibt Zeitzeugen, die die dort promovierte Angela Merkel politisch verortet haben. Zu ihnen gehört der Bochumer Theologie-Professor Christofer Frey, ein Freund Kasners, der diesen mehrmals in seiner Wirkungsstätte im uckermärkischen Templin besucht und dabei auch die Adlershofer FDJ-Aktivistin kennengelernt hat. Frey meint: „Näher am Regime war offenbar die Tochter.“ Der Pfarrer, den sie in der Evangelischen Kirche den „roten Kasner“ nannten, liebäugelte nämlich schon früh mit den im gesamten Ostblock mit Begeisterung aufgenommenen Gorbatschowschen Ideen von Glasnost und Perestroika.

1989 hat sich dann auch Angela Merkel dem reformkommunistischen Lager angeschlossen, was sich in allerlei Beiträgen für die Wandzeitungen am ZIPC niederschlägt. Im September desselben Jahres folgt dann ihr Schritt in die Politik. Angela Merkel tritt dem Demokratischen Aufbruch (DA) bei, wo sie dem Rechtsanwalt Wolfgang Schnur zuarbeitet, der als IM von den Reformkräften im Ministerium für Staatssicherheit beauftragt worden war, die neue Partei aufzubauen. Aus der dem alten Honecker-Regime angepaßten Wissenschaftlerin wird nun die Polit-Aktivistin, die für einen demokratischen Sozialismus in einer eigenständigen DDR kämpft. „Wenn wir die DDR reformieren, dann nicht im bundesrepublikanischen Sinne“, erklärt sie selbstbewußt gegenüber Frey im September 1989. 

Keine drei Monate später gilt das für Angela Merkel nicht mehr. Der Wind hat sich gedreht. Alles, wofür sie und viele andere Reformkommunisten stehen und für das sie sich engagiert haben, ist seit der durch den Mauerfall entfachten Dynamik nicht nur obsolet, sondern ins schroffe Gegenteil verkehrt worden: Statt des demokratischen Sozi-alismus ist nun Kapitalismus angesagt, statt Zweistaatlichkeit nationale Einheit, statt Mitgliedschaft in RGW und Warschauer Pakt die Zugehörigkeit zu EU und Nato. Reihenweise werfen Reformkommunisten das Handtuch, wollen sie doch nicht Teil einer Entwicklung sein, die sie nicht gewollt haben. Angela Merkel gehört zu denen, die das nicht tun. Sie wird zum Chamäleon und macht, jetzt gefördert vom CDU-Blockpartei-Vorsitzenden, dem Stasi-verstrickten Lothar de Maizière, eine beispiellose Karriere in der ebenfalls wiedervereinigten CDU Deutschlands.

Wie fundamental die Wendung der Angela Merkel von der angepaßten SED-Mitläuferin über die Reformkommunistin bis hin zur Verfechterin der sozialen Markwirtschaft gewesen ist, verdeutlichen die Reaktionen ihres unmittelbaren Umfelds am ZIPC. Ihr ehemaliger Kollege, der Chemiker Hans-Jörg Osten, schreibt in einem Leserbrief für die sozialistische Tageszeitung Neues Deutschland: „Ich finde es erschreckend, in welchem Maße sich ein Mensch innerhalb von wenigen Jahren verändern kann. Ihm sei noch gegenwärtig, daß es an seinem Institut „eine rührige FDJ-Leitung mit einer Sekretärin für Agitation und Propaganda“ namens Angela Merkel gegeben habe. Und der Chemiker Herbert Ewald vom ZIPC redet dem „Aufstieg der ehemals meinungslosen und dann parteiwendischen roten Frau Merkel bis in die Nähe des Bundeskanzlers“ das verächtliche Wort. Begünstigt durch die Unkenntnis der Verhältnisse in der DDR verfestigt sich im Westen derweil Zug um Zug das von ihr geschickt genährte Klischee von der systemkritischen Pfarrerstochter, die schon immer von der deutschen Einheit geträumt habe. 

Für Angela Merkel ist die Wendezeit prägend. Und sie hat aus dieser ganz offensichtlich ihre Lehren gezogen, wie ihre künftige Politik verdeutlicht: Wer dort bestehen will, der braucht weniger Überzeugungen als Flexibilität und Opportunismus. Dazu gehört ein Sensorium für Stimmungen in der Parteiführung, an ihrer Basis und vor allem in der Bevölkerung. Dies macht das Wesen von Angela Merkels Politikverständnis aus, eines Politikverständnisses, in dem Macht zum Selbstzweck werden muß. Ihre Gesellschaftspolitik, die Abschaffung der Wehrpflicht und der Ausstieg aus der Kernenergie sind beredte Beispiele dafür. 

Mit Verantwortung für das Land und seine Zukunft hat das alles nicht viel zu tun. Aber populär ist die seit 2005 amtierende Kanzlerin dennoch. Der amerikanische Friedensnobelpreisträger Henry Kissinger hat einmal über Angela Merkel gesagt, nachdem sie Bundeskanzlerin geworden ist: „Wir beobachten eine neue Leaderfigur, die auf ihrem Weg nach oben systematisch unterschätzt wurde und plötzlich als der perfekte Ausdruck ihrer Zeit erscheint.“

Diese Zeit, sprich die sich wandelnde Gesellschaft, kommt Merkels Politikverständnis entgegen. Vorbei scheinen die Zeiten zu sein, zu denen Bundeskanzler ihre Überzeugungen auch gegen den Mainstream durchgesetzt haben. Werte und Bindungen haben an Bedeutung verloren. Die Gesellschaft scheint nicht zuletzt einer durch das Internet begünstigten Zersplitterung anheimzufallen und von einer Stimmung in die andere zu taumeln. Konsens und Kompaß drohen dabei verlorenzugehen.

Von Herbst 2015 an geht die Rechnung der Kanzlerin dennoch nicht mehr auf. Die Ursache ist die nicht weniger opportunistisch motivierte Entscheidung in der Flüchtlingspolitik. Mit ihrer unbegrenzten Aufnahme und ihrem „Wir schaffen das“ ist Angela Merkel, der man absurderweise nachsagt, sie denke als Naturwissenschaftlerin die Dinge vom Ende her, einmal mehr der von einer Welle der Hilfsbereitschaft getragenen veröffentlichten Meinung gefolgt. Sie gefällt sich in der Rolle der gefeierten barmherzigen „Mutter der Nation“ – so lange, bis sich die Stimmung im Lande angesichts der eskalierenden Migrationsströme ins Gegenteil verkehrt. Die ansonsten so sicher im Wind des Zeitgeists segelnde Kanzlerin hat sich verzockt. Ihre Zustimmungswerte bröckeln seitdem kontinuierlich.

Mit dem Mut der Verzweifelten versucht Angela Merkel, die ihrer Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer inzwischen den Trümmerhaufen einer wertemäßig entkernten CDU überlassen hat, heute zu retten, was noch zu retten ist. Sie will sich den Klima-Hype zunutze machen, indem sie grüner als die Grünen sein will und im Alleingang die deutschen Klimaziele noch verschärft. Schluß mit „Pillepalle“, sagt sie und meint damit ihre eigene bisherige Umweltpolitik, wieder einmal frei nach dem Motto „Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern.“ Ob die neuen Klimaziele überhaupt machbar sind ohne die Wirtschaft lahmzulegen, scheint Angela Merkel gleichgültig zu sein. Sie macht weiter wie gehabt – eben so wie sie es 1989/90 verinnerlicht hat. Doch es wird ihr nicht mehr helfen. Ihr Opportunismus hat sich erschöpft.






Dr. Ralf Georg Reuth, Jahrgang 1952, Historiker und Journalist, ist (zusammen mit Günther Lachmann) Autor des Buches „Das erste Leben der Angela M.“ (Piper Verlag, 2013)