© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/19 / 28. Juni 2019

Unterwegs sein als Ziel
Ein Kreativurlaub der Filmsprößlinge: „Wenn Fliegen träumen“ ist das Regiedebüt der Schauspielerin Katharina Wackernagel
Sebastian Hennig

Katharina Wackernagel hat in fast allen Filmen ihres Bruders Jonas Grosch agiert. Doch dieser Erfolg war ihr nicht genug und sie setzte sich zum Ziel, bis zu ihrem 40. Geburtstag selbst einmal Regie zu führen.

Die beliebte Schauspielerin zeigt sich nun sehr zufrieden, daß ihr das zumindest hinsichtlich der Fristsetzung gelungen ist. Denn einer unmittelbaren Förderung konnte sich die Herstellung von „Wenn Fliegen träumen“ nicht erfreuen. Indirekt wurde der Film dann aber doch aus einem großen Budget mit gespeist. Das Geschwisterpaar konnte seine Filmkomödie „bestefreunde“ ans Fernsehen verkaufen, um mit denselben Schauspielern aus dem Erlös das Drehbuch von Grosch zu verfilmen. Katharina Wackernagel spielt darin eine Nebenrolle. Die Mutter der beiden, Sabine Wackernagel, ist mit dabei sowie mit Robert Glatzeder und Johannes Klaussner zwei weitere Sprößlinge berühmter Film- und Bühnenakteure.

Bei den Dreharbeiten in Skandinavien diente eine Hütten-Siedlung zugleich als Kulisse der Handlung und Unterkunft des Drehstabs. Nun kann ein solches Filmbiwak durchaus inspirierende Ergebnisse zeitigen, wenn ein genialer Anführer den ungebundenen Kräften eine Form zuweist. Einige der besten Leistungen von Filmlegenden wie Sergei Paradschanow, Roland Klick und Emir Kusturica sind auf diese Art entstanden. Dafür ist aber die Handlung von „Wenn Fliegen träumen“ zu zahm. Sie entspricht eben dem Erfahrungshintergrund dieser Jeunesse dorée des deutschen Filmgeschäfts.

Wackernagels Berufung auf den Hintersinn des skandinavischen Kinos ist nicht nachvollziehbar. Nicht zuletzt, weil die dort geschilderten Situationen auf deutsche Verhältnisse bezogen sogleich eine andere Tragweite erhalten. Es begegnen uns in unterschiedlichen Stadien beschädigte Existenzen. Der Erbfall tritt ein für zwei Halbschwestern, die beide sonst nie etwas von ihrem Vater hatten, weder in materieller Hinsicht noch an familiärer Bindung. Die in Deutschland aufgewachsene Afrikanerin Naja (Thelma Buabeng) ist Psychotherapeutin und tariert ihre eigenen Persönlichkeit mit den Verwerfungen ihrer Patienten aus. Hannah (Nina Weniger) berichtet norwegischen Touristen in deren Muttersprache vom deutschen Ostwest-Konflikt. Die Frauen treffen am Berliner Pratergarten vor einem Feuerwehrauto zusammen. In diesem und einem Haus in Norwegen besteht ihr Erbe. 

Die einsame Psychotherapeutin und ihre suizidgefährdete Halbschwester machen sich in dem roten Auto auf den Weg nach Norwegen. An ihre Reifen heften sich die beunruhigten Patienten von Naja, gefolgt vom Lebenspartner Hannahs, Christian (Sebastian Schwarz), mit der Anästhesistin (Katharina Wackernagel), einem Arzt sowie Hannahs Mutter.

Unterwegs sammeln die beiden Halbschwestern einen Vagabunden auf. Carlos (Johannes Klaußner) stellt sich als ein spanisch aussehender Finne vor. Die Frauen lassen sich gern blenden vom schönen Schein dieses Frohsinn versprühenden Windbeutels.

Der Titel parodiert auf die Verfilmung des Lebens von Peter-Pan-Autor J. M. Barrie mit Johnny Depp in der Hauptrolle. Denn „Finding Neverland“ gelangte hierzulande unter dem Titel „Wenn Träume fliegen lernen“ in die Kinos. Statt einer Familie hat Naja vom Leben abgefertigte Mitmenschen als regelmäßigen Umgang. Der Bilderbogen verschrobener Typen erweckt einen Heißhunger nach Normalität. Mit verzweifelter Gleichgültigkeit tragen sie ihr Dilemma vor sich her wie eine Monstranz. Die Möglichkeiten einer metaphorischen Figur wie Luz (Niels Bormann), der als Todesengel und Bestattungsredner auftaucht, schöpft der Film nicht aus. 

Dem Film mangelt es an Leichtigkeit

Der Film bleibt eine vielfach unmotiviert wirkende Aneinanderreihung von Szenen und Sequenzen und ähnelt einem Flugzeug, das über die Startbahn rast, sich an deren Ende aber nicht in die Lüfte zu erheben vermag und stattdessen mit einem Affenzahn durch die Wiesen und Acker holpert. Seine Schnelligkeit, in der Luft beeindruckend, ist auf dem Boden fehlgeleitet und verhängnisvoll.

Es mangelt dem Film, bei aller Originalität einzelner Ideen, an der Leichtigkeit zum Abheben. Der Betrachter verliert bald die Lust, die lose verbundenen Fäden in dem lockeren Strickwerk zu verfolgen. Das Unterwegssein ist der einzige Kitt, um die Handlung nicht völlig zerstieben zu lassen. Der Zerfall liegt freilich im Menschenbild begründet. Das Roadmovie ist der neue Kriegsfilm, in dem der moderne Mensch unablässig gegen sich selbst zu Felde zieht. Aber auch als Leidender bleibt er eine klägliche Figur.

Filmstart am 27. Juni 2019