© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/19 / 28. Juni 2019

Auf dem Basar der Weltpolitik
Konferenz von Versailles: Es dominierten zusehends die internationalen Interessengegensätze der Siegermächte des Ersten Weltkriegs
Stefan Scheil

Sie konnten sich als Sieger des gerade zu Ende gegangenen und noch nicht nummerierten „Großen Krieges“ fühlen, als sie 1919 in Paris zusammenkamen. Großbritannien, Frankreich, Italien, die USA und Japan hatten es geschafft, in der ersten Reihe derjenigen genannt zu werden, die künftig die Weltpolitik bestimmen sollten. Doch es blieb noch zu klären, ob es eine gemeinsame Basis für diese Zukunft geben könnte, oder ob die gerade angebrochene Nachkriegszeit sich nicht in allzu kurzer Zeit als eine Art Vorkriegszeit herausstellen würde.

Einstweilen bildete es in Paris den so ziemlich einzigen politischen Konsens, den vorherigen Gegner als moralischen Außenseiter abzuqualifizieren. Das konnte allerdings die scharfen und grundsätzlichen Interessengegensätze nicht unterdrücken, die in zahllosen Verhandlungsrunden ausgetragen wurden. Schließlich standen weite Teile der Welt zur Verteilung und die Zukunft der Mächte auf dem Spiel.

Gegensatz der französischen und britischen Strategie

Jene Mächte waren deshalb in ganz unterschiedlicher Weise bestrebt, den militärischen Sieg politisch zu verwerten. In Frankreich gab man sich mit Leidenschaft der Versuchung hin, den selbst gesuchten Erzfeind Deutschland unter den gegebenen Bedingungen weiter zerteilen und besetzen zu wollen. Wo immer das neue Prinzip der nationalen Selbstbestimmung diesem Ziel diente, wurde es angewandt, wo es Deutschland begünstigt hätte, jeweils außer Kraft gesetzt.  

Solche Zielsetzungen entsprachen nicht den Vorstellungen in Großbritannien, dessen Regierung die Probleme mit Deutschland seit dem November 1918 für weltpolitisch zweitrangig erachtete. Von allem europäischen Elend abgesehen, war dieses Land jedweder Überseebesitzungen, der Flotte, unzähliger internationaler Patente und des gesamten Auslandsvermögens beraubt und daher keine Größe mehr, mit der auf dem Planeten noch zu rechnen war. Aber vielleicht durchaus eine, die als Markt und europäische Hilfskraft noch interessant werden konnte. Es entwickelte sich vor diesem Hintergrund schon früh ein entsprechender Gegensatz zwischen der französischen und der britischen Strategie mit Deutschlandbezug.  

In anderen Weltregionen zogen beide eher an einem Strang. Schon 1916 hatten beide Länder den Nahen Osten für den Fall des Sieges im geheimen untereinander aufgeteilt. Mit diesem „Sykes-Picot“-Abkommen (JF 20/16) wurden Staaten wie Syrien und der Irak zum erstenmal auf der Landkarte skizziert. Offiziell wußte das vorläufig niemand, inoffiziell auch nur ein extrem kleiner Kreis. Später trat diesem Zirkel noch Italien bei, dem für seinen Kriegseintritt gegen Deutschland neben Südtirol und Teilen von Kroatien ebenfalls ein ordentliches Stück der heutigen Türkei versprochen worden war. Etwas unvorhergesehen und für alle bisherigen Vertragspartner unangenehm, traten dann allerdings die Vereinigten Staaten auf den Plan, die für diese Region nun wieder eigene Vorstellungen entwickelt hatten, besonders mit Blick auf die dortigen Ölvorkommen. 

Ein Zauberwort der Pariser Friedenskonferenzen, mit dem man viele Konflikte erst einmal zu überbrücken hoffte, lautete „Mandat“. Er bezeichnete einen Mantel der Vorläufigkeit über die zu verteilenden Eroberungen. Mandate wurden etwa sämtliche früheren deutschen Kolonialbesitze, was soviel hieß, daß diese Länder zwar in der Praxis britisch, französisch, südafrikanisch oder japanisch wurden, formal aber nur Verwaltungseinheiten unter der Oberhoheit des Völkerbunds blieben, über deren Besitz später zu bestimmen war. Mitten im Zweiten Weltkrieg trat schließlich die deutsche Botschaft in Tokio eigenmächtig die pazifische Inselwelt an Japan ab, eine Randnotiz der Weltpolitik.

Aus den „Mandaten“ über früheren türkisch-osmanischen Besitz entstanden Verwaltungseinheiten wie Syrien, Irak und Palästina. Hier wurden Weltthemen der Politik begründet, die teilweise bis heute abgearbeitet werden.

Letztlich kristallisierte sich eine weltpolitische Dreiklassengesellschaft heraus, die sich zwar in Versailles schon anbahnte, aber erst 1922 im Washingtoner Flottenabkommen verbindlich festgeschrieben wurde. Zwei Mächte, die USA und Großbritannien gaben künftig auf der Welt den gleichberechtigten Standard vor, der Rest ordnete sich in der zweiten Klasse (Japan) oder der dritten Klasse (Italien und Frankreich) ein. Als später, im Jahr 1935, Deutschland von Großbritannien per Flottenabkommen in diese dritte Klasse aufgenommen wurde, galt das als diplomatische Revolution.

Kampf um Einflußzonen beschwor neues Kriegsrisiko

Als erstklassig, wie sich die USA verstanden, hatten sie von vornherein dafür gesorgt, daß die neue Weltordnung für sie einige Ausnahmen bereithielt. Die Gründungsakte des Völkerbunds bekräftigte zum Beispiel die „Monroe-Doktrin“ aus dem frühen 19. Jahrhundert. Was auf dem amerikanischen Doppelkontinent mit der neuen Weltordnung vereinbar sein würde, bestimmten demnach die USA alleine, bei Interventionsverbot anderer Staaten.

Es folgten sehr bald Versuche der Konkurrenz, sich in ähnlicher Weise für souverän zu erklären. Im Briand-Kellogg-Pakt von 1928, dem nächsten Versuch zur formalen Beendigung aller Kriege, behielten sich auch Großbritannien und Frankreich ein Interventionsverbot für ihre Kolonialreiche vor, was praktisch ein exklusives Schußrecht bedeutete. In Japan deutete man dies als Signal dafür, daß an einer eigenen exklusiven Einflußzone kein weltpolitischer Weg vorbeiführte und begann wenig später mit ersten Besetzungen in China. Insgesamt gesehen, tat sich die Friedensordnung von Versailles zu jedem Zeitpunkt schwer, etwas anderes als ein Kalter Krieg und eine neue Vorkriegszeit zu sein.