© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/19 / 05. Juli 2019

Phantom der Einheit
Libyen: Ankara mischt plötzlich ordentlich mit
Marc Zoellner

Deutlicher hätte die Verbalnote nicht ausfallen können: Sollte die Libysche Nationale Armee (LNA) nicht unverzüglich ihre Gefangenen freilassen, warnte das Außenministerium der Türkei am Sonntag in Hinblick auf sechs von der LNA im Osten Libyens festgenommene türkische Staatsbürger, würde Ankara die libysche Armee „zum legitimen militärischen Ziel“ erklären. 

Am Samstag waren die türkischen Männer aufgrund des Spionage- und Terrorismusverdachts in der ostlibyschen Hafenstadt Adschdabiya verhaftet worden. Zur gleichen Zeit verkündete Chalifa Haftar, Oberkommandeur der Tobruker Gegenregierung zur in Tripolis ansässigen „Regierung der nationalen Einheit“ (GNA), ein Verbot kommerzieller Flüge von und nach der Türkei und drohte mit Angriffen auf türkische Schiffe, welche in libyschen Hoheitsgewässern gesichtet würden.

Frankreich schlägt sich auf Haftars Seite 

Für Haftar kam die Eskalation des Konflikts zu einem ungünstigen Zeitpunkt: Seine Truppen, die seit Anfang April mit dem erklärten Ziel der Einnahme Tripolis’ in den Westen des ölreichen Mittelmeerstaates einmarschierten, erlitten mit dem Verlust der Stadt Garian in der vergangenen Woche ihre erste bedeutende Niederlage. 

Gut achtzig Kilometer südlich der libyschen Hauptstadt gelegen, diente Garian der Sicherung des Nachschubs an Munition und Versorgungsgütern für den Belagerungsring der LNA rund um Tripolis. Der Durchbruch der GNA-freundlichen Milizen bei Garian, zeigte sich Haftar jedoch sicher, erfolgte nicht aus eigener Kraft – sondern aufgrund der massiven militärischen Unterstützung der Tripolitaner Regierung seitens der Türkei. Die Fotos einer jüngst am Flughafen von Tripolis zerstörten türkischen Armeedrohne sollten diesen Verdacht erhärten.

Tatsächlich macht Ankara keinen Hehl aus seiner engen Verbundenheit mit der GNA unter Ministerpräsident Fayiz as-Sarradsch. Denn dessen fragile Regierung ist nicht nur abhängig von der Duldung durch regionale Warlords und Milizen, sondern ebenso von den Sympathien der in Westlibyen einflußreichen Moslembruderschaft – deren politischer Arm, die „Partei für Gerechtigkeit und Aufbau“ (JCP), eine formelle Kopie der „Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung“ (AKP) des türkischen Präsidenten Recep T. Erdogan darstellt. Für Ankara gilt es, die in Libyen bereits zu Zeiten des Alleinherrschers Muammar al-Gaddafi getätigten milliardenschweren Investitionen in den Erdölsektor zu sichern. Dafür finanziert die Türkei nicht nur die Betätigung der JCP; seit Anfang des Jahres beliefert sie Tripolis ebenso umfangreich mit Drohnen und gepanzerten Fahrzeugen.

„Wir werden alle enttäuschen, die Libyen zu einem neuen Syrien machen wollen“, rechtfertigte Erdogan die direkte Einmischung seines Landes in den seit Mai 2014 tobenden libyschen Bürgerkrieg, der längst zum ausgemachten Stellvertreterkrieg der Regionalmächte des Nahen Osten entwachsen ist. Neben der Türkei erfährt die GNA dabei Rückendeckung vom finanzstarken, streng islamisch geprägten Emirat Katar. Chalifa Haftar wiederum erfreut sich wachsender Beliebtheit unter den autoritären Herrschern der meisten anderen Golf- und Anrainerstaaten – bis hin zu Frankreich, das in der LNA einen schlagkräftigen Verbündeten im Kampf gegen islamistische Terrorzellen sieht.

„Zuzüglich zu unseren engen Beziehungen mit Ägypten, Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Jordanien, Kuwait und Tunesien konnten wir auch bedeutende Fortschritte in unseren Beziehungen mit Algerien und dem Sudan feststellen“, faßte Haftar Mitte Juni im Interview mit dem Libyan Address Journal seine diplomatischen Erfolge zusammen. 

Moskau und Washington halten sich zurück  

Den Grundstein dieser florierenden Beziehungen hatte der Marschall im Juli 2017 bereits selbst gelegt, als es seinen Truppen gelang, die ostlibysche Hafenstadt Bengasi aus dem Griff des „Islamischen Staates“ (IS) zu befreien. Auch seinen Vormarsch auf Tripolis begründete Haftar damit, „der Schlange den Kopf abzuschlagen“; sprich: die Moslembruderschaft militärisch aus der Hauptstadt zu vertreiben. 

Für Ägyptens Präsident Abd al-Fattah as-Sisi, dessen Land sich eine beinahe unkontrollierbare 1.200 Kilometer lange Grenze mit Libyen teilt, über welche in den vergangenen Jahren immer häufiger islamistische Terroristen in den Nilstaat eindrangen, stellte Haftar spätestens seit Bengasi einen natürlichen Verbündeten dar. Überdies hatte auch as-Sisi im Juli 2013 gegen die damals in Ägypten regierenden Moslembrüder geputscht.

Als unzulänglich ist hingegen die Rolle der Vereinigten Staaten sowie Rußlands zu bewerten: Offiziell erkennen beide Großmächte die GNA als alleinige libysche Regierung an. Mindestens ebenso offiziell unterhalten beide jedoch auch gute Beziehungen zu Haftar. Bereits Mitte April hatte US-Präsident Donald Trump in einem Telefonat mit dem LNA-Kommandeur Haftars „bedeutende Rolle im Kampf gegen den Terrorismus und zur Sicherung von Libyens Ölvorräten“ gewürdigt. 

Nur eine Woche später berichtete das US-Nachrichtenmagazin Bloomberg, das Weiße Haus habe Haftar grünes Licht für dessen Vorstoß auf Tripolis gegeben – just nach einem Treffen Trumps mit as-Sisi. Den Kreml wiederum belastet der türkische Nachrichtensender TRT World mit dem Vorwurf, über private Kontraktoren wie die berüchtigte „Gruppe Wagner“ Hunderte russische Söldner zur Verstärkung der Truppen Haftars nach Ostlibyen ausgesandt zu haben. Als wichtigster Handelspartner Moskaus im Nahen Osten dürfte Ankara nur wenig an einer direkten militärischen Konfrontation mit russischen Staatsbürgern in Libyen gelegen sein – zumal beide Parteien schon im syrischen Bürgerkrieg auf verschiedenen Seiten stehen.

Nicht von der Hand zu weisen ist von daher eine Mutmaßung libyscher Pressevertreter, die am Montag erfolgte Freilassung der sechs inhaftierten türkischen Staatsbürger durch die LNA könne auf Druck russischer Kreise erfolgt sein, um eine Eskalation abzuwenden. Gleichwohl begann diesen Montag unter dem Namen „Operation Ende des Verrats“ der zweite Vormarsch der LNA auf Tripolis – begleitet von einem Bombardement des Flughafens und der Stadt durch Mig-21-Kampfflugzeuge, die Haftar zu dessen Kampf gegen Moslembruderschaft und GNA-Regierung aus den Beständen Ägyptens und der VAE überlassen worden waren.