© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/19 / 05. Juli 2019

„Wir hätten sterben können“
Italien und die Sea-Watch 3: Die Niederlande springen Rom bei / NGOs müssen den Anweisungen der Behörden folgen
Marco F. Gallina

Wir hätten „sterben können“. Nicht von Migranten oder Mitgliedern der Organisation Sea-Watch stammen diese Worte – sondern von den fünf Besatzungsmitgliedern eines italienischen Zollschiffs, das in der Nacht zum Samstag die Einfahrt der Sea-Watch-3 zu verhindern versuchte. Vergeblich: „Hätten wir es nicht geschafft, ein schnelles Manöver auszuführen, dann wären wir alle tot“, äußert sich ein Mitglied der Finanzpolizei, die auch für den Grenzschutz zuständig ist. Auf Youtube und Twitter kursieren Videos, welche die Ansicht der Beamten untermauern: Rücksichtslos hält das Schiff unter der Führung von Carola Rackete auf die Mole zu. Das 600-Tonnen-Schiff droht das Patrouillenboot zu zerquetschen. 

Ein Drittel der „Geretteten“ nimmt Deutschland auf 

Der Applaus bei der Festnahme Racketes wird übertönt von Buh-Rufen und Schmähungen. Immer wieder hallt der Ruf „Vattene!“ („Hau ab!“) dazwischen, als die Polizei die deutsche Schiffsführerin um circa 1.30 Uhr abführt. Ob der Beifall ihr oder den Behörden gilt, ist dabei weit unsicherer, als so manches Medium suggeriert. Spätestens seit der Beinahe-Katastrophe im Hafenbecken von Lampedusa ist die Stimmung in der italienischen Bevölkerung gekippt. Innenminister Matteo Salvini verurteilte die Aktion als „kriminellen Akt“, mit dem die „Verbrecher“ ihre „Masken“ abgelegt hätten. Rackete verteidigt die Aktion damit, daß die Migranten an Bord suizidgefährdet gewesen seien. Demnach hätte eine dringende Notlage bestanden. Das italienische Innenministerium hat dagegen klargestellt, daß keiner der 40 Geretteten in Gefahr schwebte. Krankenhausaufenthalte seien keine nötig gewesen.

Die Eskalation am Samstagmorgen ist der Höhepunkt eines wochenlangen Tauziehens. Am 14. Juni hatte die Sea-Watch-3 53 Menschen vor der Küste Libyens geborgen. Die Küstenwache Libyens forderte das Schiff auf, die Migranten zurück an Land zu bringen. Rackete entschied sich stattdessen dazu, das über 200 Kilometer entfernte Lampedusa anzusteuern. Aus medizinischen Gründen wurden dort 13 Migranten aufgenommen. Um die restlichen 40 Migranten folgte in den nächsten Tagen ein zermürbender Nervenkrieg, da Italien dem Schiff den Zugang zu seinen Hoheitsgewässern verweigerte. 

Eine Intervention der Berliner NGO beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, die dazu dienen sollte, die Landung auf der italienischen Insel zu erzwingen, schmetterte Straßburg ab. Zwei Wochen kreuzte die Sea-Watch-3 vor Lampedusa, bevor sie entgegen den Warnungen der Behörden in italienische Hoheitsgewässer eindrang und Kurs auf den Hafen nahm.

Die gefährliche Entwicklung in der Causa Sea-Watch ist auch deswegen überraschend, weil der deutsche Innenminister Seehofer noch am Freitag eine Lösung am Horizont erblickt hatte. Fünf Länder – Deutschland, Finnland, Frankreich, Luxemburg und Portugal – hatten sich bereits vorher bereit erklärt, die Migranten aufzunehmen. 

Mit ihrem Manöver hat sich die 31jährige in eine prekäre Situation gebracht: Schiffe der Guardia di Finanza haben Kombattantenstatus. Rackete droht daher nicht nur eine Geldbuße wegen Verstoßes gegen Gewässersperrung und Beihilfe bei illegaler Einwanderung, sondern auch eine Anklage wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt und Gewaltanwendung gegen ein italienisches Kriegsschiff. Rackete verteidigte ihre Aktion als „zivilen Ungehorsam“ und entschuldigte sich. Der Staatsanwalt Luigi Patronaggio sprach dagegen von einem „unzulässigen Gewaltakt“ und einer „Gefährdung der Sicherheit der Allgemeinheit“. Drei bis zehn Jahre Gefängnis drohen der Skipperin. Vorerst steht Rackete unter Hausarrest.

Der Festnahme schloß sich in Deutschland eine emotionsgeladene Debatte an, aufgeheizt von Journalisten, Politikern und NGO-Vertretern, die allesamt die Freilassung der deutschen Staatsbürgerin forderten. Die Tageszeitung Corriere della Sera sammelte diese Stimmen und machte sie damit der italienischen Öffentlichkeit publik. Der Fall Rackete wird daher von Teilen der italienischen Bevölkerung als deutsche Einflußnahme verstanden. 

Laut Umfragen hat Salvini die Mehrheit der Italiener in seinem rigiden Vorgehen hinter sich. Der Regierungspartner von der Fünf-Sterne-Bewegung stellte sich nach Wochen des Koalitionskrachs in der Sache hinter den Innenminister. Ankie Broekers-Knol, niederländische Staatssekretärin für Sicherheit und Justiz, stellte sich in einem öffentlichen Schreiben hinter Salvini und verurteilte das Vorgehen von Sea-Watch. 

„Offensichtlich erwarten die Crew, wie auch die Migranten selbst, daß sie auf See gerettet werden. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß die Aktivitäten von NGO-Schiffen, die systematisch nach Migranten in Not suchen und durch Aufklärungsflugzeuge sowie durch eine Notrufnummer unterstützt werden, diese Erwartungen  wecken“, betonte Broekers-Knot. „Sea Watch“ & Co. sollten diese Strategien der Schlepper berücksichtigen, einschließlich der Wahrscheinlichkeit, daß sich die Schlepper auf sie verlassen, um ihre menschliche Fracht zu retten.“ Vor allem müßten die Anweisungen der zuständigen Such- und Rettungsbehörden, einschließlich der libyschen Behörden, befolgt werden. Auch sollten gerettete Personen gemäß den internationalen Vorschriften am nächsten sicheren Hafen an Land gehen. Die Landung in einem nordafrikanischen Hafen sollte daher als mögliche Option in Betracht gezogen werden. Die deutsche Sea Watch e.V. fährt unter niederländischer Flagge