© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/19 / 05. Juli 2019

Verlockung zum Sündenfall
Journalismus der fiktiven Fakten: Eine Erinnerung an den Reporter Egon Erwin Kisch
Walter T. Rix

Der Journalist. wie er sich als Erscheinungsform der Publizistik seit etwa Mitte des 19. Jahrhunderts herausgebildet hat, ist ein zwischen Information und Publikum grundsätzlich gespaltenes Wesen. Einerseits will er Information vermitteln, andererseits muß er Erwartungen entgegenschreiben und sich auch an die Blattlinie halten. Leicht kann er dabei der Versuchung erliegen, die von ihm vermittelte Wirklichkeit so zu gestalten, wie es den Erwartungen entspricht.

Gustav Freytag hat dieses Spannungsverhältnis in seinem satirischen Lustspiel „Die Journalisten“, das erstmalig 1852 in Breslau auf die Bühne kam, eindrucksvoll auf den Punkt gebracht, indem er den Journalisten Konrad Bolz, Redakteur der bürgerlichen Zeitung Union, sagen läßt: „Es gibt so Vieles, was geschieht, und so ungeheuer Vieles, was nicht geschieht, daß es einem ehrlichen Zeitungsschreiber nie an Neuigkeiten fehlen darf.“

Das „ungeheuer Vieles, was nicht geschieht“, verlockt den Journalisten ständig zu einem Sündenfall. Läßt er sich darauf ein, ist er nicht länger an die Fakten gebunden und kann so schreiben, wie es den Erwartungen entspricht. Bedient sich der Journalist weitgehend dieser von ihm evozierten Fakten, so kann er damit mühelos eine der Politik konforme Weltsicht zusammenbauen.

Ein eindrucksvolles Beispiel für die Entwicklung dieser Richtung liefert der Fall des Egon Erwin Kisch. Wesentlich für seinen Aufstieg waren die Verhältnisse der Weimarer Republik. In dieser Zeit entwickelte sich eine Zeitungswelt, wie sie in diesem Ausmaß und in dieser Qualität nie wieder erreicht wurde. 

1933, unmittelbar vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten, waren an die 4.000 Zeitungen registriert, und man zählte fast 10.000 Journalisten. Bedeutende Schriftsteller waren auch als Journalisten tätig, und da Zeitungen das einzige Massenmedium waren, traten sie zugleich als politische Akteure in Erscheinung. Zahlreiche der nach dem Ersten Weltkrieg arbeitslos gewordenen Offiziere warfen sich auf den Journalismus, wodurch der rechte Flügel des Pressespektrums erheblich gestärkt wurde.  Die linke Presse mußte sich daher etwas einfallen lassen, wollte sie insbesondere in den urbanen Ballungszentren ihre Leser finden. Unter amerikanischem  Einfluß löste im deutschen Pressewesen nunmehr die Reportage das Feuilleton ab. Jetzt sah sich der Journalist weitgehend als Reporter.

Der Exponent dieser neuen Gattung war der am 29. April 1885 als Sohn eines deutschsprachigen jüdischen Tuchhändlers in Prag geborene Egon Erwin Kisch. Was für den Journalisten eine Versuchung darstellte, das Spiel mit den Fakten, kehrte er in das positive Gegenteil um, indem er die Formel von der „logischen Phantasie“ erfand. „Logisch“ bedeutet für ihn in diesem Kontext, daß das Phantasieprodukt dem Erwartungshorizont des Publikums entsprechen mußte. „Phantasie“ ihrerseits besagt, daß man sich jener Fiktionen bedient, die die beste Wirkung versprachen. Die Reportage wurde dadurch zu einem Konstrukt, das seine Öffentlichkeitswirkung nicht verfehlte.

Der eigentliche Sachverhalt war dabei weitgehend irrelevant. Wie Kisch nicht müde wurde zu betonen, verwirrte und langweilte eine Fülle von Fakten nur. Vielmehr mußten diese so sortiert und aufbereitet werden, daß sie von den Lesern angenommen wurden und ihre Wirkung entfalteten. Die Reportage wurde letztlich zu einer Inszenierung, die durch ihre Detailfülle die angeblichen Tatbestände glaubwürdig erscheinen läßt.

Nachdem er sein Studium an der TH Prag abgebrochen hatte, erlebte Kisch 1906 seine Initiation als Lokalreporter bei der deutschsprachigen Prager Tageszeitung Bohemia. Man hatte ihn in einen Vorort von Prag geschickt, um über einen Brand zu berichten. Er traf dort zu spät ein, und die Kollegen machten sich über ihn lustig. Da er von dem eigentlichen Ereignis nichts mitbekommen hatte, erfand er eine Geschichte: Obdachlose und Landstreicher hätten beim Löschen geholfen. Nichts davon stimmte.

Als er am nächsten Tag etwas beklommen in der Redaktion eintraf, mußte er feststellen, daß gerade diese aus der Luft gegriffene Geschichte Furore machte. In seinem 1942 in Mexiko geschriebenen Werk „Marktplatz der Sensationen“ kommt er unter der Überschrift „Debüt beim Mühlenfeuer“ auf dieses Erlebnis zurück und schließt mit der Bemerkung: „Sollte ich also bei der Lüge bleiben? Nein. Gerade weil mir bei der ersten Jagd nach der Wahrheit die Wahrheit entgangen war, wollte ich ihr fürderhin nachspüren. Es war ein sportlicher Entschluß.“

Die Geschichte mag sich so abgespielt haben, aber das Bekenntnis zur Wahrheit fällt in den Bereich der Fiktion. Seine Wahrheit ist bei genauerer Betrachtung eine spezielle Wahrheit. Der künstlerische Ehrgeiz führt Kisch, der zweifellos mit dem Wort umzugehen weiß, dazu, seine Berichte in den Rang der literarischen Reportage zu erheben. Und da dem Dichter die gestalterische Freiheit gegeben ist, kann man ihn damit nicht der Lüge zeihen. Es ist interessant, daß die Germanistik in diesem Punkt allerlei Verrenkungen macht und begrifflich sehr schöpferisch ist, die Diskrepanz zwischen Bericht und Fakten zu umschreiben.

1923 gibt Kisch die Anthologie „Klassischer Journalismus“ heraus. In dem Vorwort betont er, daß „nicht die bessere Sache den irdischen Sieg erficht, sondern die besser verfochtene Sache“. Damit ist die Frage der „Parteilichkeit“ angesprochen, die wiederum die Problematik von Hermeneutik und Erkenntnis hervorruft. Kann die parteiliche Perspektive durch das Arrangement von Fakten zur Erkenntnis führen?

In der Auseinandersetzung um den Dichter Gottfried Benn mit dem Herausgeber der Zeitschrift Die neue Bücherschau, Gerhart Pohl, stellt Kisch fest, daß die reine Kunst nur Scheinwelt ist. Ihr stellt er die „dreidimensionale parteiliche Kunst“ gegenüber, „die bewußt Vergangenheit und Gegenwart in den Dienst der Zukunft stellt“, und verläßt prompt mit Johannes R. Becher das Redaktionskomitee der Zeitschrift. Wieder führt das zurück zur Position, daß die Reportage als Konstrukt eine „künstlerische Schöpfung“ sei, demgegenüber seien die gewöhnlichen Reporter lediglich „banale Demagogen, bar jeder Phantasie, trockene Rationalisten“. Auf diesem Weg geht Kisch sehr weit. Auf seiner Reise 1925/26 durch die Sowjetunion erklärt er, seit 1919 Mitglied der Kommunistischen Partei Österreichs, vor den Mikrofonen in Moskau, daß eine Lüge in der Sowjetunion unmöglich sei.

Die subjektive Handhabung der Fakten führt folgerichtig zu einer Entgrenzung, denn einmal zum heuristischen Prinzip erhoben, läßt sich das Verfahren überall durchführen. Entsprechend bewegt ist die Biographie von Kisch: Kurz nachdem er 1921 nach Berlin übergesiedelt war und hier das Romanische Café zum Stammsitz erwählt hatte, reist er in kurzer Folge durch die ganze Welt und liefert seine Reportagen. Dies hat ihm die Bezeichnung „rasender Reporter“ eingebracht. Abgesehen davon, daß der dadurch bedingte Zeitfaktor einem Erkenntnisprozeß im Wege steht, vollzieht sich die länderumspannende Reportagepraxis damit parallel zur raumgreifenden Strategie der Komintern, die die proletarische Weltrevolution anstrebt.

Im März 1946 kehrt Kisch aus seinem Exil in Mexiko nach Prag zurück und wird hier zum Stadtrat gewählt. Am 31. März 1948 stirbt er an den Folgen zweier Schlaganfälle. 1995 bekannte der Journalist und Fernsehmoderator Hanns Joachim Friedrichs in einem Interview mit dem Spiegel: „Das hab’ ich in meinen fünf Jahren bei der BBC in London gelernt: Distanz halten, sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten, nicht in öffentliche Betroffenheit versinken …“ Ein Rufer in der Wüste?

Zum 100. Geburtstag von Kisch gaben ihm zu Ehren sowohl die DDR als auch die Bundesrepublik eine Sondermarke heraus. Von 1977 bis 2005 wurde der Egon-Erwin-Kisch-Preis als höchste journalistische Auszeichnung vergeben – bis er danach etwas kleinlaut zum Henri-Nannen-Preis mutierte. Der Boden ist gut bereitet. Wenn sich der Journalist den Zielvorgaben einer Regierung unterwirft, so macht er sich zu einem Wasserträger eines politischen Machtanspruchs, mag er sich auch als Herold einer besseren Zukunft empfinden.

Egon Erwin Kisch: Schreib das auf, Kisch! Ein Kriegstagebuch. Aufbau, 2014, gebunden, 320 Seiten, 15 Euro

Egon Erwin Kisch: Aus dem Café Größenwahn. Berliner Reportagen. Verlag Klaus Wagenbach, 2013, gebunden, 144 Seiten, 18 Euro

Egon Erwin Kisch: Das Lied von Jaburek. Prager Reportagen. Verlag Klaus Wagenbach, 2015, gebunden, 144 Seiten, 17 Euro

Egon Erwin Kisch: Der rasende Reporter. Independently Published, 2019, kartoniert, 278 Seiten, 8,95 Euro