© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/19 / 05. Juli 2019

Grundgesetz und Verfassungswirklichkeit
Es ist ein Skandal
Günter Scholdt

Angesichts der aktuellen hysterischen Mobilisierung gegen alles, was rechts ist (Ratschläge für juristische und verfassungsmäßige Ausgrenzung inklusive), rechtfertigt sich ein kleiner Rückblick auf das, was noch vor wenigen Wochen so wortreich gefeiert und beschworen wurde. Denn im Mai jährte sich die Verkündung unseres Grundgesetzes zum siebzigsten Mal – Anlaß für ein wenig Stolz auf das, was unsere Vorfahren seinerzeit an Regelungen zur Sicherung von Demokratie und Rechtsstaat vereinbart haben.

Insofern ertrug man geduldig die Suada Karlsruher Gedenkredner, darunter den Präsidenten des Europäischen Gerichtshofs mit der Story, sein Hauptgeschäft bestehe im segensreichen Dialog mit den nationalen Gerichten. Von der partiellen Kapitulation unseres Verfassungsgerichts gegenüber dubiosen Brüsseler Kompetenzanmaßungen in finanzieller und nationaler Hinsicht (vgl. Ulrich Vosgerau: „Unter fremden Richtern“, JF 21/19) hörte ich nichts. Staatsoberhaupt Frank-Walter Steinmeier wiederum forderte uns auf, sich ruhig mal hineinzuwagen in die „Werkstätten der Demokratie“, womit dieser kühne Metaphoriker offenbar die (koscheren) Parteien des Deutschen Bundestags meinte.

Über all dies las man Erhebendes unter anderem in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, deren Ausgabe vom 23. Mai sich dem Gedächtnis des Tages besonders verpflichtet fühlte. Neben einem Leitartikel über die Karlsruher Feier vom Vortag gab es unter anderem einen umfangreichen Kommentar des Herausgebers Berthold Kohler voller Pathos, wie bereits der Titel „Die Bibel der Deutschen“ verriet. Das Grundgesetz sei „auch dank intensiver Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht zur Bibel der Deutschen geworden. Wer verstehen will, wer wir sind und woran wir glauben, sollte sie lesen“. Eine Zeichnung illustriert diese Sicht. Sie zeigt Moses, der mit den Zehn Geboten vom Berg Sinai herabsteigt. Aus einer himmlischen Wolke ragt zusätzlich eine göttliche Hand, die das Grundgesetz hält, erläutert durch folgende Sprechblase: „Moment, Moses, nimm das noch für die Deutschen mit!“

Von solcher transzendentalen Höhe zu den Niederungen des Alltags einer im gleichen Blatt publizierten Nachricht. Sie ist mit „Mehrheit beklagt ‘politische Korrektheit’“ überschrieben. Und in der Tat erfahren wir aus der jüngsten Befragung, daß 71 Prozent der Deutschen befürchten, Äußerungen über Immigration, Muslime oder den Islam seien gefährlich. Wie kommen sie nur darauf? Auch die NS-Zeit oder das Thema Juden sei mehrheitlich angstbesetzt. Weitere Vorsicht herrsche bei Patriotismus, Homosexualität oder Gender-Umtrieben. Das heißt, eine Majorität, die als „naziverseucht“ zu verleumden nur verbohrten, auf Alternativlosigkeit gepolten Hirnen einfallen kann, hat schlicht Angst, sich zu wichtigen Themen dieses Landes öffentlich zu äußern.

Inwieweit Furcht sich auf Freiheit reimt, wäre zu klären. Aber bei allem Grundgesetz-Hype gänzlich dissonant wirkt ein Schreiben, das etwa zeitgleich mit den Jubiläumsfeiern der Berliner AfD-Geschäftsstelle zuging. Es betraf ihre Planung zur Wahlparty am 26. Mai. Die E-Mail besitzt den Wert eines Schlüsseltexts zur Befindlichkeit unserer momentanen Gesellschaft und erhebt Anspruch, in einem künftigen Dokumentenband zur Mentalitätsgeschichte der Berliner Republik publiziert zu werden. Sie hat (bei standardisierter Orthographie) folgenden Wortlaut:

So schön vieles auf republikanischen Festpodien klingen mag: Für echte Demokraten zählt als Nagelprobe dieser Staatsform ihr Verhältnis zur Meinungsäußerungsfreiheit und ihr konkreter Umgang mit einer Opposition, die diesen Namen verdient.

„Sehr geehrter Herr …,

leider sehe ich mich gezwungen, die Veranstaltung am 26. Mai 2019 abzusagen.

Die Drohungen mir gegenüber, meiner Familie und vor allem der Nachbarschaft in den Höfen sind sehr extrem.

Man legt mir nahe, daß die Vergeltung erst nach der Veranstaltung erfolgen wird, mit massiven Drohungen, das Gebäude zu beschädigen sowie Autos anzuzünden. Die Nachbarn im Haus machen sich große Sorgen um ihre Sicherheit.

Es ist mir durchaus bewußt, daß am Veranstaltungstag die Polizei und Sicherheitsbehörden vor Ort sind, aber sicherlich nicht an den folgenden Tagen und vor allem folgenden Nächten. Das Haus wurde bereits am letzten Samstag mit Antifa-Tags beschmiert.

Des weiteren sind die Telefonnummern von mir und meines Angestellten veröffentlicht worden, was dazu führte, daß ich mich am Wochenende ständigem Telefonterror ausgesetzt sah.

Es tut mir außerordentlich leid, daß ich Ihnen so kurzfristig absagen muß, aber ich möchte Sie inständig bitten, hier meine Position zu verstehen.

Mit freundlichen Grüßen

…“

Angesichts dessen, was dieser Entscheidung vorausging, rührt mich dieses hilflose Schreiben, obwohl mir dergleichen nicht neu ist. Schon lange weiß ich, wie selektiv Verfassungsgarantien in der Praxis greifen: etwa jene lobenswerten Artikel 3 bis 5 oder 8: „Niemand darf wegen seiner politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“ „Die Freiheit des weltanschaulichen Bekenntnisses ist unverletzlich.“ „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten.“ „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“ „Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich zu versammeln.“ usw. Handelt es sich dabei etwa nur um einen Wunschkatalog nach der Devise: „Papier ist geduldig“? Auch Stalins Verfassung von 1936 war bekanntlich ein Wunder an Rechten und Verheißungen.

Keine Sorge, ich verkenne fundamentale Unterschiede und die ganz andere mörderische Dimension nicht. Nur sollten wachsame Staatsbürger deshalb nicht so anspruchslos sein, darauf zu verzichten, gegenwärtige skandalöse Widersprüche zwischen Theorie und Praxis heftigst zu monieren. Denn so schön vieles auf republikanischen Festpodien klingen mag: Für echte Demokraten zählt als Nagelprobe dieser Staatsform ihr Verhältnis zur Meinungsäußerungsfreiheit und ihr konkreter Umgang mit einer Opposition, die diesen Namen verdient. Natürlich darf man ein Staatssystem nicht für jeden Einzelverstoß im Ganzen haftbar machen. Aber sind es denn tatsächlich nur Einzelfälle? Oder handelt es sich um strukturelle, letztlich geduldete Mißstände?

Aus eigener Anschauung (von Mainz über Hamburg bis Berlin) kenne ich Beispiele im Dutzend, wie perfide die (auch öffentlich alimentierte) Antifa bei unerwünschten Veranstaltungen verfährt. Krawallgruppen bedrängen Wirte, Kioskbesitzer oder Wahlkämpfer, stellen Redner in Hörsälen oder im Internet an den Pranger. Mal sind’s Vertriebene, die nicht sprechen dürfen, mal Historiker oder Bevölkerungswissenschaftler mit lästigen Daten, mal besonders gehaßte Lebensschützer. Gegen Sarrazin gründete sich ein (schon sprachlich verräterisches) „Aktionsbündnis Tugendterror gegen #TerrorThilo“. Verlage oder Zeitschriften werden bekämpft beziehungsweise wirtschaftlich geschädigt, und man versucht, sie von Buchmessen zu vertreiben. AfD-Funktionäre erhalten „Hausbesuche“ von vermummtem Mob. Kaum ein Vorstand der Partei existiert, ohne daß wenigstens ein Mitglied körperlich verletzt worden wäre. Andere Nonkonformisten sind juristischen oder beruflichen Gefährdungen ausgesetzt, während der Rechts- zunehmend zum Gesinnungsstaat mutiert und der Verfassungsschutz weniger das Grundgesetz als die Regierung verteidigt.

Zum gedeihlichen Umgang miteinander taugt der Verfassungspatriotismus nur, wo er tatsächlich gelebt und nicht nur proklamiert wird. Sollte das Grundgesetz tatsächlich die „Bibel der Deutschen“ sein, birgt die „Zivilgesellschaft“ inzwischen viele Atheisten. 

Zwar gibt es offiziell keine Zensur, aber andere infame Methoden, Alternative von öffentlichen Debatten, Medien oder Karrieren auszuschließen. Schon vor Jahren hat dies der Passauer Rechtsphilosoph Johann Braun angeprangert, was ihm bezeichnenderweise ein (später eingestelltes) Disziplinarverfahren eintrug. „Obgleich die freie Rede zum Lebenselement der Demokratie gehört“, schrieb er, müsse man hierzulande „über die wichtigsten Fragen“ schweigen. „Hinter der Fassade einer freiheitlichen Rechtsordnung ist eine unfreiheitliche Realordnung entstanden. Diese legt fest, wann und zu welchem Zweck von der rechtlichen Freiheit Gebrauch gemacht werden darf. Die Herrschaft über diese gedankenpolizeilichen Metaregeln liegt in den Händen derer, die sich auf die Kunst verstehen, an allen Rechtsnormen vorbei unkontrolliert politische Macht auszuüben.“

Auf diese Praxis bezog sich Jörg Meuthen, als er anläßlich der bedrohten Wahlparty bilanzierte: „Der Gesinnungsterror nimmt in Deutschland immer extremere Formen an (...) Ich fordere den Berliner Senat auf: Nehmen Sie endlich das Problem der linksextremen Gewalttäter ernst.“ Und Alexander Gauland fügte hinzu: „Diese Absage-Mail der Vermieterin läßt erahnen, wie tief der Linksextremismus unsere Gesellschaft bereits unterwandert hat. Es ist eine Schande für unser Land und unsere Demokratie.“

Wo solches (wahrlich nicht zum ersten Mal) geschieht, darf man von denen, die angeblich vom Geist des Grundgesetzes durchdrungen sind, eigentlich ein unmißverständliches Bekenntnis erwarten, daß dergleichen untolerierbar ist. „Wer zu uns gehören möchte“, hieß es in Berthold Kohlers Leitkommentar vollmundig, „muß“ die Verfassungsgebote „befolgen“. Ein Blick auf etablierte Medien ernüchtert leider. Denn vielen war der Vorgang keine Zeile wert. Und wo die FAZ immerhin ihrer Berichtspflicht nachkam, geschah dies eher halbherzig.

Denn die (bezeichnenderweise erst auf Seite 6 plazierte) Meldung über den Vorfall ist durchweg im unterkühlt-distanzierenden Verlautbarungsmodus gehalten: Es habe „Drohungen“ gegeben, Telefonnummern seien „veröffentlicht worden“, etc. Wirkliche Empathie mit Drangsalierten sieht anders aus. Auch ein relativierender Zusatz des Redakteurs fällt auf, daß solche häufigen Absagen von Wirten nicht nur aus Sicherheitsgründen, sondern auch deshalb erfolgten, „weil Hoteliers und Gastwirte die Politik der Partei ablehnen“. Zudem erschien der Artikel erst, als die AfD einen (übrigens geheimgehaltenen) Ersatzraum gefunden hatte. So konnte die Geschichte gar mit der Erfolgsmeldung betitelt werden, die fast Entwarnung gab: „AfD findet Ort für Wahlparty.“ Alles halb so schlimm also! „Framing“ nennt das die Branche, eine Technik, die mit Elisabeth Wehlings entlarvendem Framing-Manual für die ARD im Februar dieses Jahres einem breiteren Publikum bekannt wurde.

Der linksgrüne Gegenbegriff zu Vaterlandsliebe heißt „Verfassungspatriotismus“. Wer sich nur zu dieser rationalistischen Schwundstufe bekennen will, möge dies tun. Aber zum gedeihlichen Umgang miteinander taugte er nur, wo er tatsächlich gelebt und nicht nur proklamiert wird. Und sollte das Grundgesetz tatsächlich die „Bibel der Deutschen“ sein, birgt unsere sogenannte „Zivilgesellschaft“ inzwischen offenbar viele Atheisten.






Prof. Dr. Günter Scholdt, Jahrgang 1946, ist Historiker und Germanist und war Leiter des Literaturarchivs Saar-Lor-Lux-Elsaß. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über den Begriff des Populismus („Lackmustest der Demokratie“, JF 39/16). Letzte Buchveröffentlichung: „Anatomie einer Denunzianten-Republik“ (Lichtschlag-Buchverlag, Grevenbroich, 2018)

Foto: Verschlossene Lippen: Offiziell gibt es im Geltungsbereich des Grundgesetzes keine Zensur, aber andere infame Methoden, Andersdenkende von öffentlichen Debatten, Medien oder Karrieren auszuschließen