© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/19 / 12. Juli 2019

„Wie vom Blitz getroffen“
Eine junge US-Jüdin hört vom 20. Juli 1944, gibt ihre Karriere auf, dreht zehn Jahre einen Dokumentarfilm und bringt so den deutschen Widerstand – 17 Jahre vor Tom Cruise – erstmals nach Hollywood. Warum?
Moritz Schwarz

Frau Beller, warum wurde Ihr Film „Das ruhelose Gewissen“ 1991 für den Oscar nominiert?

Hava Kohav Beller:  Das kann ich Ihnen auch nicht sagen. Vielleicht weil mein Film das universelle Thema des Gewissens und der moralischen Entscheidung in Zeiten von Gefahr und Not behandelt – speziell die Spannung zwischen persönlicher Verantwortung gegenüber einem persönlichen Ehrenkodex einerseits und einem tyrannischen politischen System andererseits. Das ist ja auch heute noch von Relevanz – sich auseinanderzusetzen mit der Frage, wie handeln in einem ethischen und moralischen Dilemma? Der Film ist damals in den USA und ebenso in anderen Teilen der Welt auf große Resonanz gestoßen und tut dies auch heute noch. „Das ruhelose Gewissen“ ist eine Art „Forschungsreise“ und eine Suche. Es ist ein Versuch, die menschliche Notlage – im Sinne einer Zwickmühle –, im Angesicht der ultimativen Bedrohung, die die Menschheit in den Jahren des Dritten Reichs befallen hatte, zu verstehen. Er betrachtet das ethische und moralische Dilemma, und er betont die Herausforderungen, die die damalige Zeit allen auferlegt hat, die darin gefangen waren. Damit erhellt er, wie außergewöhnlich jene gewesen sind, die sich damals dafür entschieden, zu widerstehen. Allerdings ist der Film keine „Moralität“ – also nicht eine Art moralisches Lehr- und Bühnenstück – über das Gute gegen das Böse in Deutschland. Und er versucht auch nicht, die Widerständler in einen Pantheon, eine Ruhmeshalle, zu erheben. Vielmehr zeigt er die Geschichte von Menschen, die sich in der zutiefst menschlichen Situation wiederfinden, eine Entscheidung des Gewissens und des Willens treffen zu müssen. Er will also grundsätzliche Fragen über die moralischen Fundamente der Gesellschaft und der Gesetze, die sie beherrschen, stellen – ebenso zum Dualismus: legale Gesetze contra Gesetz der Moral. Die Bedeutung der Inhalte des Films überschreitet dabei sowohl die Grenzen der Epoche wie des Ortes. Die entscheidenden Fragen nach dem legalen und dem moralischen Recht, die durch die Widerständler aufgeworfen wurden, übersteigen also die Begrenzungen von Zeit und Raum und erheben sich auf eine universelle Ebene.

Allerdings wußten Sie selbst lange nicht, daß es einen deutschen Widerstand gab.

Beller: Der Holocaust war und ist ein überwältigendes, alles einnehmendes Trauma, das keinen Raum für irgend etwas sonst ließ. Tatsächlich wurde „Das ruhelose Gewissen“ aus der Notwendigkeit heraus gemacht, das Unbegreifliche zu begreifen. Es war ein Versuch, das Undenkbare und Inakzeptable zu verstehen und entsprang einem Bedürfnis, ein Licht der Hoffnung zu finden in jenem sonst unermeßlich tiefen Abgrund, den der Nationalsozialismus geschaffen beziehungsweise die Nationalsozialisten angerichtet haben. Erstmals hörte ich vom Widerstand im Frühling 1981 durch Dorothea von Haeften-Steinhardt. Sie erzählte von ihrer Kindheit und ihrem Vater Hans Bernd von Haeften, der von den Nazis für seine Beteiligung am deutschen Widerstand gehängt wurde. Ihr Onkel, Werner von Haeften, wurde in der Berliner Bendlerstraße für seine Beteiligung am fehlgeschlagenen Anschlag auf Hitler erschossen. Ich war wie vom Blitz getroffen, als ich damals davon hörte. Ich ließ alles stehen und liegen und war nur drei Wochen später in Deutschland. Wie sich herausstellte war es der Beginn einer zehnjährigen Odyssee, um diesen Film zu machen.

Sie sind Jüdin und die Reaktion vieler Holocaust-Überlebenden damals war: Wir wollen nichts mit Deutschland zu tun haben, nicht einmal mit seiner Kunst oder Kultur!

Beller: Ja, nachvollziehbarerweise. Auf der anderen Seite gab es Holocaust-Überlebende, die die Widerständler verstanden und anerkannten, wie etwa Elie Wiesel, der den Film öffentlich unterstützte. Aber es gab auch andere. Ich erinnere mich an ein Mittagessen zu Ehren jener Dänen, die die dänischen Juden gerettet haben. Ich saß neben einem Ehepaar. Das Tischgespräch nahm einen Verlauf, der auch zu jenem Thema führte, von dem mein Film handelte, dem deutschen Widerstand. Die Frau, eine Europäerin, verstand mich sofort. Ihr amerikanischer Ehemann, ein Jude, meinte, das Thema interessiere ihn nicht. Da sagte ich: „Ich werde Sie nun fragen, was ich mich selbst gefragt habe: ‘Wären Sie damals an jenem Ort (also Deutschland) gewesen, welche Entscheidung hätten Sie getroffen?’ Er sagte, er müsse darüber nachdenken. Als wir uns das nächste mal trafen sagte er zu mir: „Sie haben recht! Aber ich möchte nichts darüber wissen.“ 

Zwar haben Ihre Eltern rechtzeitig bis 1935 Deutschland verlassen, doch Ihre Großmutter wurde in Auschwitz ermordet. Warum also haben Sie als Betroffene nicht auch so reagiert?

Beller: Ich fühlte mich um so dankbarer jenen Deutschen gegenüber, die Hitler Widerstand geleistet und versucht hatten, das Schlachten, Blutvergießen und die ruchlosen Verbrechen der Nationalsozialisten zu beenden. Sie trafen eine moralische und ethische Entscheidung. Dabei standen die Chancen gegen sie, ihre Aussichten auf Erfolg gingen ja gegen Null – und dennoch handelten sie! Dieser Film dokumentiert, wie Menschen sich gegen das Böse erhoben, trotz aller Todesgefahr für sie selbst und ihre Familien. Das reicht über Deutschland hinaus und geht uns alle an. Für mich ist nicht zu verstehen, was während des Holocaust geschah. Es ist eine dunkle, dunkle Tiefe. Obwohl ich weiß, daß die Nazis menschliche Wesen waren. Sie waren ja keine andere Spezies. Daraus folgt, daß dieses Böse in uns allen ist. Es war für mich von entscheidender Bedeutung, die Menschen aufzusuchen, die gegen dieses Böse aufgestanden sind, und die so das Fortleben des Guten im menschlichen Geist ermöglicht haben. Das war für mich essentiell. Denn ich wuchs in Israel in einem Kibbuz auf, wo wir gelehrt wurden, Verantwortung füreinander zu übernehmen, für die Gerechtigkeit aufzustehen, für das zu kämpfen, was wir als das Richtige ansehen. Und wir wurden zur Liebe zu unserem Land – der „Moledet“, also der „Heimat“ – inspiriert. Diese Gemeinsamkeiten schufen eine starke Affinität zu den Widerständlern. Als ich meiner Mutter erzählte, daß ich diesen Film plante, sah sie mich lange an und sagte: „Und ich habe so sehr versucht, dich von all dem fernzuhalten.“ Später, als ich sie fragte, ob sie mich in Berlin, ihrer Vaterstadt, besuchen wolle, lehnte sie ab und sagte mit gesenktem Kopf: „Der Verrat war zu groß ...“

Daß der deutsche Widerstand Sie beeindruckt hat, ist nachvollziehbar – aber daß er Ihr ganzes Leben verändert hat ...

Beller: Das ist schwer zu erklären. Als ich davon hörte, daß es Deutsche gab, die Widerstand geleistet hatten, war es für mich klar, daß ich dem würde nachgehen müssen. Meine unmittelbarste Reaktion darauf war und ist noch heute: Wäre ich an ihrer Stelle gewesen, wie hätte ich gehandelt? Hätte ich den Mut gehabt, den sie bewiesen haben? Wer würde das überhaupt? Ein ernüchternder Gedanke und einer, der einen demütig macht. Sie wußten, daß sie ihr Leben in Gefahr brachten, ebenso wie das ihrer Familien und Freunde und doch fühlten sie sich verpflichtet zu handeln. Mir scheint es, daß es nicht gerecht ist, daß sie ihr Leben geopfert haben und daß nur so wenige Menschen hier davon wissen. Tatsächlich sind sie doch weitgehend aus dem Bewußtsein der Menschen „verschwunden“. Ich aber möchte wissen, wer sie waren. Warum sie taten, was sie taten. Welche Gefahren und Probleme sie zu überwinden hatten. Es gab und gibt so viele Fragen.

Wie ist es Ihnen gelungen, den Film zu finanzieren?

Beller: Zehn Jahre habe ich daran gearbeitet. Es gab Momente großer Freude, aber auch der Niedergeschlagenheit und der Rückschläge. Den Film zu machen erwies sich als Sisyphos-Arbeit, sowohl zu Hause in den USA, wie in Europa. Es offenbarte zudem eine beunruhigendes Ausmaß an befangenem Denken, Vorurteilen, Verletzungen und Ungerechtigkeiten, verursacht durch falsche Informationen. Bitten um finanzielle Unterstützung des Projekts wurden zurückgewiesen, da es angeblich „zu kontrovers“ sei. „Wir befürchten, es wird die Deutschen weißwaschen“, hieß es etwa oder: „Es würde einen Mythos bezüglich Deutschlands erschaffen.“ Sieben Jahre lang verkaufte ich persönliche Habseligkeiten, verdiente Geld durch Unterricht, Arbeit in einer Kunstgalerie und arbeitete für die telefonische Kundenakquise der Metropolitan Opera – ja ich lieh mir sogar Geld, um das Projekt zu finanzieren. Schließlich aber kam der Durchbruch in Gestalt von Subventionen und auch privaten Zuschüssen aus den USA und aus Deutschland. Nach seiner Uraufführung 1991 wurde „Das ruhelose Gewissen“ für den Oscar nominiert und erhielt das Große Bundesverdienstkreuz durch den damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Außerdem bekam der Film Auszeichnungen der Petra Foundation am American Institute for Arts and Sciences, der The American Film & Video Association, der Women in Film L.A., sowie den CINE Golden Eagle Award und weitere Auszeichnungen. Und wir ernteten begeisterte Kritiken, sowohl in der US- wie in der internationalen Presse. 

Es wirkt immer noch unverständlich, weshalb Sie sich als Nicht-Historikerin so dafür aufgeopfert haben. 

Beller: Es war doch eine menschliche Tragödie, es ging um das Schicksal echter Menschen. Zu Geschichte ist es erst in der Rückschau geworden. Oder anders gesagt: Ich war eine Quereinsteigerin, inspiriert und bestimmt dies zu tun! Ich wußte, ich konnte es tun. Und ich tat es!  

Im Klartext, Sie haben Ihre Karriere in Ihrem erlernten Beruf geopfert.

Beller: „Geopfert“ kann ich nicht sagen, denn ich tat das, was ich für wahnsinnig wichtig für mich hielt. Ich bin dankbar, daß ich die Widerstandskämpfer, die überlebt haben, treffen durfte und daß sie bereit waren, mit mir zu sprechen.

Schockierend in Ihrem Film wirkt wenn Ewald-Heinrich von Kleist berichtet, wie er als junger Offizier seinen Vater um Rat und Erlaubnis fragte, ob er sich dem Widerstand als Selbstmordattentäter zur Verfügung stellen solle.

Beller:  Ja, dieser Vater-Sohn-Austausch ist wirklich ein fast unglaublicher und intensiver Moment. Ein wortgewandtes, verwickeltes Zusammentreffen sich überschneidender Dynamiken hinsichtlich zwischenmenschlicher Beziehungen, inneren Verpflichtungen, Überzeugungen und Traditionen. Dies explodiert im Film schließlich mit donnernder Stille, nur indem einfach ein paar Worte ausgetauscht werden. Der Mut, die Eloquenz, die Zuvorkommenheit, das schiere Anstandsgefühl beider, Vater und Sohn, repräsentieren das, was so bewunderungswürdig an diesen deutschen Männern und Frauen des Widerstands war.

Typisch für die Vermittlung des Widerstands hier in Deutschland ist die weitgehende Auslassung seines deutschnationalen Moments. Fast immer wird er allein als „Aufstand des Gewissens“ präsentiert, während tatsächlich das Motiv „Rettung des Reichs“ ebenso bedeutend war.

Beller: Das stimmt. Und soweit ich weiß, ist das eine anhaltende politische Debatte in Deutschland. 

Aber Ihr Film präsentiert das doch ebenso.

Beller: Nein, nicht ganz. Zwar ist das beherrschende Thema in „Das ruhelose Gewissen“ das Motiv eben des Gewissens, doch die patriotische Motivation wird ebenfalls einbezogen – unbeirrt und sehr eloquent durch einige der Widerständler selbst, wie Fritz von der Schulenburg, Adam von Trott zu Solz, und andere, deren Motivation beide Elemente umfaßte. Was jedoch wichtig war, war sich der Herausforderung des Gewissens zu stellen – als man mit der inhumanen Seite des Menschen konfrontiert wurde. „Das ruhelose Gewissen“ handelt vor allem von einzelnen Menschen. Sie repräsentieren den Sieg der Hoffnung über den fortgesetzten Haß. Ihre Stimmen müssen gehört werden, überall in der Welt – die heute wieder voll von Haß und unermeßlicher Brutalität ist, während das Morden immer weitergeht. Die Botschaft dieser Menschen ist die Hoffnung, sprich Brücken zu bauen zwischen Menschen. Sie bestätigten durch ihr Vorbild, daß wir alle menschliche Wesen sind, daß wir alle verantwortlich füreinander, daß wir in der Tat „unseres Bruders Hüter“ sind, wie es in der Bibel heißt – damals ebenso wie heute. 






Hava Kohav Beller, die Choreographin, Schauspielerin und Dokumentarfilmerin wurde 1931 als Eva Stern in Frankfurt/Main geboren, wuchs in Israel auf und zog 1953 nach New York. Nach dem internationalen Erfolg ihres „brillanten“ (Jerusalem Post) Films „The Restless Conscience“ (Das ruhelose Gewissen), wurde er 1992 auch im deutschen Fernsehen aufgeführt (abrufbar auf Youtube in zwei Teilen). 2002 veröffentlichte sie den Dokumentarfilm „The Burning Wall“ über die DDR-Opposition.

Foto: Szenen aus „Das ruhelose Gewissen“ (mit Freya von Moltke, Klaus von Dohnanyi, Willy Brandt): „Ich habe Habseligkeiten verkauft, gejobbt, Geld geliehen ... doch der Film galt als ’zu kontrovers’, es hieß etwa: ‘Wir fürchten, er wird die Deutschen weißwaschen.‘‘