© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/19 / 12. Juli 2019

Versuchter Völkermord
Mit der Ratifizierung des Versailler Vertrages hoben die Engländer im Juli 1919 allmählich die Blockade des Deutschen Reiches mit Lebensmitteln und Rohstoffen auf / Die Hunderttausenden von zivilen Opfern wurden von Londoner Politikern und Militärs bewußt in Kauf genommen
Karlheinz Weißmann

Kurz vor Kriegsende erschien am 8. September 1918 die britische Zeitung Weekly Dispatch mit einem Artikel über die Folgen der britischen Seeblockade. Der Titel lautete „Die Hunnen von 1940“, und der Verfasser F. W. Wile stellte voller Genugtuung fest, „daß nicht nur Zehntausende von Deutschen, die bis jetzt ungeboren sind, für ein Leben physischer Minderwertigkeit prädestiniert sind, (...) sondern daß auch Tausende von Deutschen, die sogar bis jetzt noch nicht empfangen sind, demselben Schicksale werden gegenüberstehen müssen. Englische Krankheit wird wohl die Krankheit sein, der man in der Zeit nach dem Kriege am öftesten an unfähigen Deutschen begegnen wird.“ 

Im folgenden berief sich Wile ausdrücklich auf Lord Baden-Powell, den Gründer der internationalen Pfadfinderbewegung, der geäußert habe, man werde „bis 1940 warten müssen, um zu sehen, wer wirklich den Krieg gewonnen hat. Die tatsächlichen Folgen der Blockade wird diese verbrecherische Nation erst in Zukunft erfahren.“ Unter Berufung auf einen weiteren Gewährsmann fuhr Wile fort: „Welches ist die Wirkung auf die deutsche Zivilbevölkerung, ausgeübt durch die tatsächliche völlige Unterbindung der Einfuhr von Nahrungsmitteln und durch die Einschränkung von inländischen Erzeugnissen (besonders Fleisch und Fett), durch den Mangel von ausländischen Futtermitteln? Der Erfolg ist, daß Krankheiten mit höchst ansteckendem und verheerendem Charakter sich über das ganze Land ausbreiten. Deutschland ist heute ein verpestetes Land. (...)  Die deutsche Rasse wird vernichtet, darüber besteht nicht der geringste Zweifel, (...) mit anderen Worten, wenn auch die Geburtenziffer in Deutschland befriedigend ist, so ist das Maß des Schadens – des übersehbaren Schadens – doch ganz anders und bedeutend ernster. (...) Das heißt, daß im Jahre 1940 es wahrscheinlich eine deutsche Rasse geben wird, die an körperlicher Degeneration leidet. (...) Das ist die englische Blockade, die in erster Linie für Deutschlands furchtbaren Ernährungszustand verantwortlich ist, mithin auch für die ständigen Folgen, die andauern werden.“

Blockadepläne gab es in England bereits ab 1908

Die hier zitierten Äußerungen stehen keineswegs isoliert da. Sie gehören in den Kontext alliierter Rechtfertigungen der Sperrung deutscher Häfen für jegliche Einfuhr. Die ging auf Pläne zurück, die die britische Marineführung schon seit 1908 entwickelt hatte. Angesichts der Risiken eines Invasionsversuchs war man zu der Überzeugung gekommen, daß es am einfachsten wäre, den Gegner auszuhungern. Die Folgen sollten zwar nicht ganz so dramatisch sein, wie in dem oben zitierten Artikel ausgemalt, aber gravierend genug. 

Der Seeblockade fielen während des Krieges 562.796 Zivilisten zum Opfer, vor allem Alte, Kranke, Schwache, Frauen und Kinder; eine unbekannte Zahl sollte für den Rest seines Lebens an schweren Gesundheitsschäden leiden. Auch nach dem Beginn der Waffenstillstandsverhandlungen blieb die Absperrung bestehen und wurde bis zum 14. März 1919 sogar noch verschärft, um den Druck auf die Deutschen zu erhöhen, die die alliierten Bedingungen ohne Widerspruch akzeptieren sollten. Insgesamt dürften diese Maßnahmen weitere 100.000 Menschen das Leben gekostet haben. Erst am 12. Juli 1919, einen Tag nach der Ratifizierung des Versailler Friedensvertrags durch den Reichstag, wurde die Blockade aufgehoben; abgesehen von der Ostseeküste, wo die britische Marineführung sie bis zum Jahresende bestehen ließ.

Nach einer umfassenden amerikanischen Untersuchung war die deutsche Versorgungslage im Frühjahr 1919 schlechter als während des Krieges, und nur allmählich besserte sich die Situation, vor allem auf Grund von Lieferungen aus neutralen Staaten, dann aus den USA. Im Februar gab es die ersten Apfelsinen seit mehr als vier Jahren, kurz darauf wurde pro Kopf ein Pfund „Brotaufstrich“, hergestellt aus Innereien, an die Bevölkerung verteilt. Es folgte die Ausgabe von zwei bis drei Eiern pro Berechtigtem, dann das erste Mehl aus Ankäufen in Amerika, aber nur ein halbes Pfund pro Woche. Im Juli 1919 tauchte echter Bohnenkaffee in den Geschäften auf, ab Oktober ließ sich die Brotration erhöhen, die bis dahin nur 250 Gramm pro Tag pro Person betragen hatte. 

Ein bleibendes Problem war die Versorgung mit Fett, da zu den Waffenstillstandsbedingungen auch die Ablieferung von 140.000 Rindern gehörte. Es fehlte weiter an sauberem Trinkwasser, Kochgas und Kohle. Im Oktober 1919 durfte auf amtliche Anordnung hin nur an vier Tagen im Monat gebadet und Warmwasser gemacht werden, Kohle war im Winter auf einen halben Zentner pro Haushalt pro Woche beschränkt. Auch für die „Kohlenot“ war das Waffenstillstandsabkommen eine wesentliche Ursache, das die Übergabe von 500 Lokomotiven und 19.000 Waggons vorsah, dazu den größten Teil der Handelsflotte.

Die Andauer dieser Zustände erklärt weiter, warum sich die Volksgesundheit in der Nachkriegszeit kaum besserte. Zwar klangen die Folgen der Spanischen Grippe, die ganz Europa erfaßt hatte, allmählich ab, die Todesrate sank zwischen 1918 und 1919 von 72.721 auf 19.875, um dann bis 1920 noch einmal auf 27.542 zu steigen, aber die Zahl schwerer anderer Erkrankungen – Tuberkulose, Lungenentzündungen – blieb unverändert hoch. Ein Grund dafür war neben schlechter Gesamtversorgung der Mangel an Hygiene. Unordnung galt als Ausweis revolutionärer Gesinnung. Nach Errichtung der Räterepublik in München starrten die Straßen bald von Müll und Dreck. Das Reichstagsgebäude, das seit dem Umsturz keine reguläre Tagung des Parlaments mehr erlebt hatte und von allen möglichen Gruppen besetzt war, mußte im August 1919 sogar entlaust werden. Für die Unterschichten ging es neben der Frage, wie die elementare Not zu bewältigen sei, auch um die Gefahr der Verwahrlosung des Nachwuchses. Die Zahl der Sechsjährigen, die bei Schuleintritt in schlechter gesundheitlicher Verfassung war, verdoppelte sich in vielen Städten gegenüber der Vorkriegszeit. 

Tod und Elend wurden von Alliierten bewußt angestrebt

In einer Bestandsaufnahme vom Beginn der zwanziger Jahre hieß es: „Zahlreiche Kinder, auch im zartesten Alter, nie einen Tropfen Milch – ohne warmes Frühstück zur Schule – als Schulfrühstück trockenes Brot – oder als Aufstrich gequetschte Kartoffeln – schwere Psychosen der Mütter infolge Entbehrungen – kein Fleisch und kein Fett – Kinder vielfach ohne Hemd und warme Kleidungsstücke zur Schule – Betten und Bettwäsche fehlen oft – in unbezogenen Betten oft drei bis vier Kinder oder zusammen mit Erwachsenen – häufig auch Zusammenschlafen der Kinder mit lungenkranken Eltern oder Geschwistern – nicht selten ferner Schlafen auf dem schmutzigen Boden ohne Betten – schwere sittliche Gefahren – Not erstickt oft allmählich jedes Gefühl für Ordnung, Sauberkeit und Sitte, läßt nur noch dem Gedanken an Kampf gegen Hunger und Kälte Raum.“

Diese Entwicklung war von alliierter Seite nicht nur billigend in Kauf genommen, sondern bewußt angestrebt worden. Das hat den Soziologen Gunnar Heinsohn dazu bewogen, die britische Seeblockade in die Kategorie des versuchten Völkermords einzuordnen. In jedem Fall zeigt das Vorgehen der Briten, wie dünn der humanitäre Firnis über den Methoden ihrer Kriegführung war. Im letzten ging es, wie der Verfasser des eingangs zitierten Textes offen zugab, darum, Deutschland einen „furchtbaren Preis“ dafür zahlen zu lassen, „daß es beabsichtigte, Weltmacht zu werden“.