© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/19 / 12. Juli 2019

Der Flaneur
Alles im Fluß
Paul Leonhard

Möwen kreisen kreischend über den träge in seinem Bett liegenden Fluß. Ein Mann gestikuliert heftig mit beiden Händen in der Luft statt am Lenkrad. Die Beifahrerin schaut gelangweilt aus dem Fenster. Vielleicht würde sie lieber hier im Biergarten sitzen. Oder in einem der folgenden Cabrios.

Ein Pärchen flaniert flußaufwärts vorbei. Ihr blonder Pferdeschwanz hopst lustig beim Gehen. Seine Haare sind kurz geschoren. Beide tragen die preußischen Farben: weiße Shirts und schwarze Shorts. Farblich paßt auch der Hund: Ein großer Dalmatiner mit unzähligen schwarzen Flecken auf dem weißen Fell.

In Leder gekleidete Kradfahrer knattern heran. Vor dem Biergarten öffnen sie die dunklen Visiere. Die schwarzen Ritter entpuppen sich als gemütlich wirkende Graubärte. 

Die Passanten schauen gar nicht auf mich, sondern auf die Angebotstafel.

Familien spazieren auf dem Boulevard. Die alten und die ganz jungen einander an den Händen haltend. Die Frauen zeigen viel Bein oder zumindest die neuen Sommerkleider, die Männer ihre T-Shirts aus den Vorjahren. Die mittlere Generation hat mindestens zwei, meist aber drei Kinder dabei. Die Mädchen tragen große, bunte Schleifen im Haar, die Jungen Basecap und blicken cool.  

Ein Hund versucht sein Herrchen an der Leine in den Biergarten zu ziehen, aber der widersteht. Ein Taxifahrer fährt Schritttempo und späht nach Kunden. Eine Radfahrerin schnipst läßig an ihrer Klingel, damit sie passieren kann. Der Mann, der ihr folgt, trägt einen weißen Kaiser-Wilhelm-Bart und einen neonbunten Helm. 

Ich wundere mich, wie viele Menschen mich mustern. Dann merke ich, daß gar nicht ich es bin, denen ihre Aufmerksamkeit gilt, sondern die Angebotskarte des Biergartens, die exakt hinter mir hängt. Ein Künstlertyp in Leinenjacke schlendert vorbei: Die Schiebermütze tief ins Gesicht mit der großen Brille gerückt. Ich warte noch immer auf mein Bier.