© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/19 / 19. Juli / 26. Juli 2019

Eine Landschaft wie eine postkartenidylle
Fontane-Jahr in der Ostprignitz: Die preußische Musterstadt Neuruppin nährt sich von ihrem großen Sohn, und Schloß Rheinsberg lockt mit Harmonie von Kultur und Natur
Hinrich Rohbohm

Er ist trotz seines hohen Alters einfach omnipräsent. „Da steht schon wieder dieser gelbe Mann“, ruft ein kleines Mädchen seiner Mutter zu. Schnauzbart und Gehrock tragend, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Die typische Pose Theodor Fontanes. In Form einer knapp einen Meter hohen gelben Kunstfigur steht er auf den Treppenstufen in der Lobby des Hotelresorts Mark Brandenburg. Und das gleich in mehrfacher Ausführung. Denn anläßlich seines 200. Geburtstages ist die Figur des bedeutenden Schriftstellers in der Luxus-Unterkunft im Rahmen einer Ausstellung nicht nur zu sehen, sondern auch zu kaufen. 300 Euro kostet das Werk, mit Signierung 700 Euro.

2019 ist Fontane-Jahr. Doch in Neuruppin, einer 30.000-Einwohner-Stadt im Norden Brandenburgs, ist genaugenommen jedes Jahr Fontane-Jahr. Denn mit seinen literarischen Werken hat der Dichter die Mark Brandenburg geprägt wie kein anderer Schriftsteller. Und sein Geburtsort Neuruppin hat sich inzwischen zu einem touristischen Anziehungspunkt entwickeln können, in dem einem der Romancier an nahezu jeder Ecke in dem Ort begegnet.

Wenn nicht als gelbe Kunstfigur, dann als Fontane-Hotel oder als Fontane-Therme, vor deren Eingang der Literat als Playmobil-Figur die Gäste grüßt. Oder als kulinarischer Genuß in Form eines Fontane-Menüs. Wie beispielsweise in dem beim Hotel-Resort Mark Brandenburg gelegenen Restaurant Seewirtschaft. Bis zum 200. Geburtstag gibt es hier nach einer „Süßwasser-Bouillabaisse unter der Blätterteighaube“ und nach einem „Perlhuhn mit Gemüse aus der Kokotte“ „Mutter Fontanes Brotpudding“ zum Dessert.

Auch in anderen Restaurants ist der Bezug zu Fontane allgegenwärtig. Der Satz „Roulade, wie sie Theodor Fontane einst aß“ fehlt in nahezu keiner Speisekarte. Nicht weiter verwunderlich, daß Neuruppin seit 1998 den Beinamen „Fontanestadt“ trägt, denn hier erblickte der Schriftsteller als Sohn des Apothekers hugenottischer Abkunft Louis Henry Fontane am 30. Dezember 1819 das Licht der Welt.

Geflügelte Worte und      bodenständige Kutschen

Noch heute steht das Geburtshaus in der Karl-Marx-Straße 84, in der Stadtmitte von Neuruppin, nur wenige hundert Meter vom langgezogenen Ruppiner See entfernt – „der fast die Form eines halben Mondes hat“ (Fontane) –, an dessen Ufer der Ort liegt. Und noch immer befindet sich in dem Haus eine Apotheke. Sogar die Hausnummer ist bis heute die gleiche geblieben. Nur an Karl Marx wollten die Stadtverantwortlichen trotz aller Fontane-Verehrung dann offenbar doch nicht rütteln. Zu Lebzeiten Fontanes hieß die wichtigste Achse der Stadt Friedrich-Wilhelm-Straße, benannt nach Friedrich Wilhelm II., dem Nachfolger Friedrichs des Großen auf dem preußischen Königsthron.

Unter dessen Regierung wurde die nach dem Flächenbrand 1787 nahezu vollständig verheerte Garnisonsstadt nach einem einheitlichen Grundriß wiederaufgebaut – eine Perle frühklassizistischer Städtebaukunst. Das Unterfangen gelang übrigens innerhalb von 15 Jahren. Eine Frucht preußischer Zucht und Ordnung.

Der überlieferte Straßenname wurde 1945 unmittelbar nach dem Einmarsch der Roten Armee auf Befehl der Sowjetischen Kommandantur getilgt. Auch nach dem Ende der DDR ist es dabei geblieben.

Immer wieder bleiben Menschen vor dem Gebäude stehen, betrachten es, machen Fotos. Auf einem schwarzen Schild steht in goldfarbener altdeutscher Schrift: „In diesem Hause wurde Theodor Fontane am 30. Dezember 1819 geboren.“ Und damit es auch dem Letzten klar wird, wer hier bis zu seinem siebten Lebensjahr wohnte, thronen über dem Apotheken-Eingang die Lettern „Fontanehaus“.

Nur wenige Gehminuten entfernt, am Ende der Hauptachse, steht das im Jahre 1907 nach den Entwürfen des Bildhauers Max Wiese errichtete Fontane-Denkmal, das sich – wie sollte es anders sein – am Fontaneplatz befindet, an dem traditionell am 30. Dezember Jahr für Jahr eine Geburtstags-Ehrung des Dichters stattfindet. Die Beine übereinandergeschlagen, Schal, Hut und Spazierstock beiseite gelegt, sitzt er hier, als märkischer Wanderer dargestellt, den Blick in die Ferne gerichtet, mit einem Ausdruck von Zufriedenheit auf dem Gesicht.

„Das Haus, die Heimat, die Beschränkung, die sind das Glück und sind die Welt“, sinnierte Fontane im 8. Gedicht des Zyklus „Tagebuchblätter aus Fremde und Heimat“, und die Sentenz mag einem hier unter den großen schattenspendenden Bäumen am Rande der schmucken, wohlgeordnet wirkenden Kleinstadt in den Sinn kommen. Das Denkmal stellt den gereiften Mann vor, der schon während dreißig Jahren seine Literatur gewordenen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ unternommen hat, dabei einen Bogen um Potsdam und Berlin machend. Das Vorwort zur ersten Auflage der „Wanderungen“ von 1861, die Zeugnis über die Grafschaft Ruppin ablegt, beginnt mit den Worten: „Erst die Fremde lehrt uns, was wir an der Heimat besitzen.“

Dennoch war es mehr eine Art Haßliebe, die Fontane mit seiner Geburtsstadt verband. Gelegentliche Besuche bei Mutter Emilie, der Schwester Elise und Bekannten. Doch mit der preußischen Akkuratesse in der Stadt tat er sich schwer.

Konkurrenz erhält Fontane in Neuruppin lediglich von – Parzival. Jenem Ritter aus der Gralsmythologie, dessen Name sich mit einer Attraktion des Künstlers Matthias Zágon Hohl-Stein verbindet, der an der Promenade des Ruppiner Sees eine 17 Meter hohe, mit über 400 Edelstahlplatten verkleidete Skulptur errichtet hat, die inzwischen zum Wahrzeichen der Stadt geworden ist.

Majestätisch erhebt sie sich aus dem Schilf des Seeufers. Wenige Meter von ihr entfernt führt ein Holzsteg zum Wasser, an dessen Ende ein Pavillon dem Besucher Aussichtsort ist. Der Blick geht über See, Schilf, Skulptur bis hin zur Neuruppiner Klosterkirche St. Trinitatis – eine Postkartenkulisse. Eine Gruppe von fünf Leuten steht unter dem Pavillon, lehnt sich an das Geländer und genießt die Aussicht. „Traumhaft, jetzt fehlt nur noch was Kühles zu trinken“, scherzt einer von ihnen. Und fügt an: „Im Ernst: Wenn die den Steg und den Pavillon zu so einem Fontane-Restaurant ausbauen, dann würden die sich hier vor Kundschaft kaum retten können.“

Ein Gedanke, der sich in dieser Idylle nur zu leicht nachvollziehen läßt. Segelboote gleiten über den glitzernden See dahin. Ein kleiner Dampfer – natürlich heißt er MS Fontane – lädt zu Touren über das Gewässer ein. Und ja: Wenn es eine Kunstskulptur von Parzival gibt, dann muß es in der Fontanestadt natürlich auch eine vom Wanderer und Dichter Theodor Fontane geben. Auch sie befindet sich an der Seepromenade. „Der Reisende in der Mark muß sich ferner mit einer feineren Art von Natur- und Landschaftssinn ausgerüstet fühlen“, steht ein geflügeltes Wort aus dem Vorwort zur zweiten „Wanderungen“-Auflage von 1864 darunter.

Wer sich diesen an Goethe erinnernden Natur- und Landschaftssinn schärfen will, der muß allerdings raus aus Neuruppin, muß eintauchen in die dünn besiedelte Gegend des Ruppiner Landes, muß fahren unter dem Blätterdach von Alleen, auf denen es vorkommen kann, daß man mit dem Auto 20 Minuten niemand anderem begegnet außer Hasen oder Füchsen, die sich hier in den Abendstunden auch heute noch im wahrsten Sinne des Wortes gute Nacht sagen könnten. Diesem Landstrich der Ruhe und Abgeschiedenheit in Wäldern, an Seen und Feldrainen, der kärglichen märkischen Natur, mögen „gröbliche Augen, die gleich einen Gletscher oder Meeressturm verlangen, um befriedigt zu sein“, nichts abgewinnen. Solchen gibt Fontane den deutlichen Wink: „Diese mögen zu Hause bleiben.“

Der letzte der fünf Bände der „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“, 1889 unter dem Titel „Fünf Schlösser“ herausgegeben, handelt von fünf „Herrensitzen“, wie sie Fontane selbst benannte und beschrieb. Dort nicht aufgenommen, zehrt Schloß Ribbeck bis auf den heutigen Tag von der Bekanntheit, die ihm die Fontane-Ballade „Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland“ spendierte: „Ein Birnbaum in seinem Garten stand.“ Längst nachgepflanzt, ziehen Haus und BaumScharen von Touristen an.

Einer der Herrensitze aus dem fünften Band der „Wanderungen“ ist das etwa 25 Kilometer von Neuruppin entfernte Schloß Hoppenrade. Ein Kopfsteinpflasterweg führt zwischen alten Baumbeständen hindurch zum Anwesen. Der Duft von Blumen, am Eingang zum Anwesen in elegante Gefäße gepflanzt, steigt einem in die Nase, das Surren verschiedenster Insekten durchzieht die Stille im abendlichen Grün. Am Gebäude angekommen breitet sich eine riesige, penibel gepflegte Rasenfläche aus, die einen an englische Landsitze erinnert.

Auf den Fundamenten einer Wasserburg aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts errichtet, zählt das Herrenhaus zu den bedeutenden barocken Anlagen Brandenburgs. Unter anderem befand sich das Schloß einst im Besitz der Familie von Kraut. In „Fünf Schlösser“ behandelt Fontane das Leben und die Skandale der Luise Charlotte Henriette von Kraut. 2007 diente der herrschaftliche Sitz auch als Filmkulisse für die Romanverfilmung „Effi Briest“ mit Julia Jentsch in der Hauptrolle.

Noch einnehmender ist dagegen das etwa 30 Autominuten von Hoppenrade entfernte berühmte Schloß Rheinsberg, das durch Fontanes „Wanderungen“ ebenfalls an Popularität gewann. Eingebettet zwischen großen, knorrigen und alten Bäumen und dem Grienericksee, in dessen Wasser sich das Schloß so schön spiegelt, wirkt das Schloß mit seinen verträumten Türmen wie einem Märchen entsprungen. Auch hier stand einst eine Wasserburg.

Rokoko und         Opposition­ in Rheinsberg

Nach mehrfachen Umbauten wurde es das erste Bauwerk des friderizianischen Rokoko und diente später als Vorbild für das Potsdamer Schloß Sanssouci, nachdem der preußische König Friedrich Wilhelm I. es 1734 zum Preis von 75.000 Talern gekauft hatte. Eine Vorbildfunktion, die es Friedrich dem Großen zu verdanken hat, der 1736 in das Schloß einzog und es ausbauen und erweitern ließ. Der populärste aller Preußenkönige sollte seine vier Jahre auf Schloß Rheinsberg als seine glücklichsten bezeichnen. Hier gründete er auch die erste Freimaurerloge Preußens, ehe er mit seiner Thronbesteigung 1740 Schloß Rheinsberg wieder verließ.

Auf dem Platz vor der Pforte zum Schloßeingang – natürlich heißt auch er Fontaneplatz – steht eine Pferdekutsche. Der Kutscher sitzt auf dem Bock und wartet. Ganz so wie zu Fontanes Zeiten, könnte man meinen. Und man läge damit gar nicht so verkehrt. „Ja, der ist hier früher des öfteren spazierengefahren“, erklärt der Mann auf der Pritsche. Heute fährt er Gäste durch den Ort, die sich bei so viel romantischer Szenerie so manches Mal in die Zeit Fontanes zurückversetzt fühlen dürften. Ganz so wie einst ist es dann aber doch nicht. „Im Gegensatz zu Fontane können wir mit der Kutsche heute nicht durch den Schloßgarten fahren“, erzählt der Kutscher.

Einen Spaziergang durch den Garten sollte man sich dennoch nicht entgehen lassen. Sonst würde man die imposanten Torbögen, von Kletterpflanzen so dicht bewachsen, daß sie einen langen Tunnel aus grünem Laub bilden, verpassen. Oder die Statuen inmitten des Grüns, die einen ebenfalls ins 18. Jahrhundert zurückversetzen. Ein Park, in dem sich Prinz Heinrich von Preußen bereits zu Lebzeiten eine pyramidenförmige Grabstätte errichten ließ und nach seinem Tod 1802 in ihr beigesetzt wurde. Er hatte das Schloß später von seinem älteren Bruder Friedrich dem Großen geschenkt bekommen.

Gegenüber, auf der anderen Seite des Rheinsberger Schlosses, errichtete Prinz Heinrich ein weiteres Bauwerk, das Fontane in seinen „Wanderungen“ ebenfalls erwähnt: den Rheinsberger Obelisken. Ein Heldendenkmal, das Heinrich von Preußen zu Ehren seines Bruders August Wilhelm sowie 28 Teilnehmern am Siebenjährigen Krieg (1756–1763) errichten ließ. Und für jene, die „durch ihre Tapferkeit und Einsicht verdient haben, daß man sich ihrer auf immer erinnere“, wie es in der Inschrift auf dem Obelisken heißt. Weil das Denkmal gerade jene ehrt, die von Friedrich II. nicht gebührend gewürdigt worden waren, deutete Fontane diese Geste auch als Akt der Opposition gegen den König.

„Wir sind schwer beeindruckt, solche kulturellen Schätze haben wir hier gar nicht vermutet“, sagt ein älteres Ehepaar aus dem hessischen Darmstadt, das ursprünglich nur eine Woche lang die brandenburgische Seenlandschaft genießen wollte. „Auch auf die Gefahr hin, daß ich mich jetzt als Kulturbanause oute: Erst in Neuruppin bin ich auf das Fontane-Jahr aufmerksam geworden“, gesteht der Mann. Seine Frau wußte zwar schon vorher davon. „Aber erst hier beginne ich, mich mit seinem Wirken stärker auseinanderzusetzen.“ Nach ihrem Urlaub hat sie sich jedenfalls vorgenommen, „auch einmal wieder ‘Effi Briest’ und ‘Jenny Treibel’ zu lesen“. Wenn man am Ort des Geschehens gewesen ist, sieht man alles doch mit anderen Augen“, sagt sie. Die beiden wollen auch „auf jeden Fall“ noch eine Schloßparkführung mitmachen, um mehr über das Anwesen und seine Geschichte zu erfahren.

Eine Führung findet übrigens an jedem Montag statt und kann neuerdings mit weiteren Schmuckstücken aufwarten. „Durch umfassende Restaurierungsleistungen gelang es in den letzten Jahren, die originalen Raumdekorationen aus der friderizianischen Zeit sowie die unter Prinz Heinrich geschaffenen frühklassizistischen Raumfassungen zurückzugewinnen“, gibt das Touristikamt über die jüngste Attraktivitätssteigerung Auskunft.

„Hier verbinden sich Natur, Architektur und Kunst zu einem harmonischen Ensemble“, wirbt die Stadt Rheinsberg mit Schloß und Schloßpark. Eine Kombination, die ganz nach dem Geschmack Fontanes sein dürfte.

Fotos: Fontane-Denkmal in Neuruppin: Der Dichter der Mark tat sich schwer mit der preußischen Akkuratesse seiner Geburtsstadt Handschrift des Dichters (u. l.): Einen Landstrich poetisch verzaubert, in dem sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen; Fontane-Geburtshaus: Das Haus trägt mit der 84 noch immer die gleiche Nummer wie vor 200 Jahren und beherbergt auch heute noch eine Apotheke Offene Kutsche mit einem Braunen (l.) und einem Fuchs: Touristenausfahrt durch den Ort Rheinsberg mit altertümlicher Anmutung; Die Seeseite von Schloß Rheinsberg, einer Perle der Mark Brandenburg: Hier verbrachte der junge Kronprinz Friedrich vor seiner Thronbesteigung 1740 die glücklichsten Jahre seines Lebens; Impressionen aus Neuruppin: Der zentrale Schulplatz (l.) und die Türme der evangelischen Klosterkirche St. Trinitatis, des Wahrzeichens der Stadt; Der Dichter ganz in Gelb: Fontane-Installation „Zwischen den Welten“ vor der Kulturkirche St. Marien; Treppenaufgang im Schloß Hoppenrade im Havelland: Der barocke Herrensitz war Filmkulisse für „Effi Briest“