© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/19 / 19. Juli / 26. Juli 2019

Die Elite schnell austauschen
Ukraine: Nach der Parlamentswahl am 21. Juli werden Politik-Neulinge das Sagen haben / EU sagt Unterstützung zu
Paul Leonhard

Für den Austausch nahezu der kompletten politischen Elite eines Landes braucht es nicht unbedingt eine Revolution, es reichen schon die Auflösung des Parlamentes durch den Präsidenten und die Ansetzung von Neuwahlen. Der bisher ohne eigene Hausmacht regierende ukrainische Präsident Wladimir Selenski – gewählt von fast drei Vierteln der Wähler – hat das nach seiner Vereidigung am 20. Mai getan, und das Oberste Gericht bestätigte am 20. Juni, daß dieser Erlaß verfassungskonform sei.

Bei den auf den 21. Juli vorgezogenen Wahlen werden die Ukrainer ein neues Parlament (424 Sitze) wählen. Damit wachsen auch die Spielräume für den Präsidenten. Denn seine bisher nicht in der Werchowna Rada vertretene, neue Partei „Diener des Volkes“ dürfte stärkste Kraft werden. Eine Umfrage des nicht-staatlichen Instituts „Rating Group“ prognostiziert der Präsidenten-Partei sogar 47,1 Prozent der Wählerstimmen.

Pro-Putin-Partei könnte Platz zwei belegen

Damit wäre das neue Parlament, das Anfang September vereidigt werden soll, mehrheitlich mit weitgehend unbekannten Politik-Neulingen besetzt. Denn die Partei „Diener des Volkes“ nimmt keine aktuellen oder ehemaligen Abgeordneten in ihre Reihen auf. Zu den bekanntesten ihrer 120 Kandidaten zählen Schan Belenjuk, ein farbiger Ringer mit ruandischen Wurzeln, der bei den Olympischen Spielen eine Silbermedaille gewann, und Oleksandr Tkatschenko, Chef des dem Oligarchen Ihor Kolomojski gehörenden wichtigen Fernsehsenders 1+1. 

Eine weitere Partei-Neugründung könnte Selenskis wichtigster Verbündeter werden, falls es allein nicht zur absoluten Mehrheit reicht: die von dem populären Rockstar Swjatoslaw Wakartschuk gegründete Partei „Stimme“. Auch diese hat keinen einzigen Politikveteranen zur Wahl aufgestellt. Prognostiziert werden ihr 8,1 Prozent der Stimmen, womit sie die drittstärkste Kraft wäre. Dicht dahinter liegt augenblicklich mit 7,3 Prozent die Vaterlandspartei der früheren Ministerpräsidentin Julia Timoschenko. Ex-Präsident Petro Poroschenko könnte dagegen mit seiner in „Europäische Solidarität“ umbenannten Partei an der Fünfprozenthürde scheitern.

Wenn die Europäische Union derzeit hektische Aktivitäten gegenüber der Ukraine entfaltet und dem Land weitere 119 Millionen Euro „für eine verantwortungsvolle und effiziente Staatsführung“, so EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker auf dem EU-Ukraine-Gipfel in Kiew, verspricht, dann ist das auch der prorussischen Oppositionsplattform „Für das Leben“ um Wiktor Medwedtschuk geschuldet, die aktuell in den Wahlprognosen mit rund zwölf Prozent auf Platz Zwei kommt. Der persönliche Freund des russischen Präsidenten Wladimir Putin lehnt eine Annäherung an EU und Nato ab und hat sich für eine weitgehende Autonomie der umkämpften Donbass-Region in der Ostukraine ausgesprochen.

Die Beendigung des Krieges ist den Ukrainern aber – neben der Bekämpfung der Korruption und der Senkung der Kommunalabgaben – das wichtigste Thema. Präsident Selenski hat Rußland gerade in Minsk Gespräche über die Ostukraine angeboten. Am 11. Juli kam es dann auch zu einem ersten Telefongespräch zwischen Selenski und Putin. Nach Angaben des Kreml wurde der Aufruf von der ukrainischen Seite initiiert. Beide hätten Fragen hinsichtlich einer Einigung im Südosten der Ukraine und der Zusammenarbeit bei der Rückkehr von Häftlingen. Sie kamen überein, diese auf Expertenebene zu klären.

Moskau beharrte bisher bezüglich der sich unabhängig erklärten Republiken Donezk und Lugansk auf Einhaltung des Minsker Abkommens. Die Aussagen der ukrainischen Führung zur aktuellen Situation seien widersprüchlich, kritisierte Rußlands Außenminister Sergei Lawrow: „Auf der einen Seite scheinen sie zu sagen, daß sie das Minsker Abkommen vollständig umsetzen werden, und auf der anderen Seite, daß sie keinen direkten Dialog mit Donezk und Lugansk führen werden.“ Tatsächlich taktiert Selenski: „Alle, die am Sinn der Verlängerung der Rußland-Sanktionen zweifeln, sollten selbst in den Donbass fahren und sich anschauen, wieviel Leid dieser Krieg brachte. ‘Sanktionen’ ist aber nicht mein Lieblingswort, das ist ‘Frieden’“, sagte er auf dem Ukraine-EU-Gipfel.

Innenpolitisch wird Selenski daran gemessen, ob und wie schnell es ihm gelingt, die Wirtschaft zu liberalisieren und anzukurbeln. Die EU hat sich jedenfalls verpflichtet, Kiew als „Reaktion auf den Konflikt mit Rußland“ mit einem Bündel neuer Maßnahmen bei der Dezentralisierung, der Korruptionsbekämpfung sowie der Stärkung der Zivilgesellschaft zu unterstützen.