© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/19 / 19. Juli / 26. Juli 2019

Hongkong marschiert
Massenproteste: Ein Drittel der Stadt steht auf gegen ein Gesetz zur Auslieferung an Festland-China / Das Prinzip „Ein Land, zwei Systeme“ soll bleiben
Hinrich Rohbom

Ein langes schwarzes Banner hängt vom Hauptgebäude der Hongkonger Universität (HKU). Die darauf in chinesischen Schriftzeichen verfaßte Botschaft richtet sich gegen deren Präsidenten, Professor Xiang Zhang. „Sie sind eine Schande für unsere Universität“, heißt es da.

Die Stimmung auf dem Campus ist so aufgeheizt wie in der gesamten Stadt. Bis zu zwei Millionen Menschen waren in den vergangenen Wochen mehrfach auf die Straße gegangen, um gegen das von der Hongkonger Regierungschefin Carrie Lam eingebrachte Auslieferungsgesetz zu protestieren. Das ist fast ein Drittel der Gesamtbevölkerung der Sieben-Millionen-Metropole. Mit der Verabschiedung des Gesetzes wäre es möglich, daß Bürger Hongkongs an das kommunistische Festland-China übergeben werden. Mit anderen Worten: Betroffene wären nicht mehr durch das Rechtssystem der Sonderverwaltungszone geschützt, fielen stattdessen der Willkür eines totalitären Regimes in die Hände. Es wäre eine erhebliche Verletzung des für 50 Jahre zugesagten „Ein Land, zwei Systeme“-Prinzips, das die Volksrepublik bei der Übergabe der einstigen britischen Kronkolonie am 1. Juli 1997 zusicherte.

Stadtregierung sieht den Widerstand als Aufruhr an

Was die Demonstranten legitimen Protest nennen, bezeichnet Carrie Lam, und mit ihr das kommunistische Regime in Peking, als Aufruhr – und damit als Straftat, die mit bis zu zehn Jahren Haft geahndet werden kann. „Wird also jemand von uns verhaftet und tritt das Auslieferungsgesetz in Kraft, so kann er vollkommen legal nach Festland-China überführt werden“, sagt Cathy, eine junge Studentin und Aktivistin der Protestbewegung. Sie hat einen Stapel Zettel unter ihren Arm geklemmt, geht damit auf dem Campus von einem Betonpfeiler zum nächsten, um daran die Botschaft der Protestler zu befestigen. Sie richtet sich gegen HKU-Präsident Zhang. „Er handelt nicht im Geiste der freiheitlichen Prinzipien unserer Universität“, klagt die 21jährige an.

Zhang hatte die Besetzung des Hongkonger Parlamentsgebäudes am 1. Juli durch Demonstranten kritisiert. „Ich bin enttäuscht von der Gewalt im Legislativrat und verurteile solche destruktiven Handlungen“, sagte er gegen die Studenten seiner Universität gerichtet.

„Eine Schande“, findet Cathy, die mit ihrem Plakat aufmerksam macht, wie sich Präsidenten anderer Universitäten in ähnlichen Situationen einst hinter die Studenten und gegen das Regime stellten. Als Vorbild dient den meist jungen Chinesen dabei vor allem der einstige Rektor der Pekinger Universität, Yuanpei Cai, der hundert Jahre zuvor, am 4. Mai 1919, im Rahmen der damaligen Studentenproteste gegen den Versailler Vertrag die Demonstranten vor der chinesischen Regierung in Schutz genommen hatte. Die damalige Bewegung des 4. Mai war der erste Massenprotest in der modernen Geschichte Chinas. 

„Professor Zhang hat in den USA studiert, aber er stammt aus Festland-China und ist dort aufgewachsen. Seine Solidarität gilt in Wahrheit Peking und nicht Hongkong“, ist Cathy überzeugt. Wie sie denken viele auf dem Campus. Hier sind die schärfsten Kritiker von Carrie Lams Politik zu finden. Ein Foto der Politikerin hängt an nahezu jeder Eingangstür der Universität – durchgestrichen mit einem großen roten Kreuz. 

Wer die Massivität der Proteste in Hongkong verstehen will, muß nur einen Blick auf die politische Entwicklung der vergangenen sieben Jahre werfen. So wie heute Carrie Lam stand vor sieben Jahren ihr Vorgänger Leung Chun-ying im Zentrum der Kritik. Der Mann, den die Hongkonger kurz CY nennen, hielt seine Antrittsrede 2012 als erster Regierungschef Hongkongs auf mandarin, der Sprache des kommunistischen Festlandes. Ein Traditionsbruch mit Symbolkraft, der das Vertrauen in das „Ein Land, zwei Systeme“ erschütterte. Nicht zuletzt deshalb, weil Kritiker von CY schon länger vermuteten, er sei ein heimliches Mitglied der Kommunistischen Partei Chinas (KPC). 

Stadt-Chefin ist Ziehtochter von „Genosse Leung“

Unter anderem hatte die Kommunismus-Aussteigerin Florence Leung Mo-han damals erklärt, CY sei schon früh Mitglied der KPC gewesen, sein politischer Aufstieg in der Stadt von der Partei systematisch gefördert worden. Die Zeitung Renmin Ribao, das Zentralorgan der KPC, feierte dessen Wahl 2012 mit den Worten, daß nun „Genosse Leung“ die Geschicke der Stadt lenke. Als Generalsekretärin war Carrie Lam damals bereits Ziehtochter und rechte Hand von CY. Ein Umstand, der den Eindruck der Hongkonger Bevölkerung, ihre Regierung sei nur noch willenloser Vollstrecker der Anordnungen Pekings, nicht unbedingt entkräftete, als Lam im Dezember 2017 zur Nachfolgerin von CY ernannt wurde.

Auch Xiang Zhang wurde im Dezember 2017 in sein Amt berufen. Er ist der erste Präsident der HKU, der seinen Studienabschluß in Festland-China erworben hat. Was bei den Studenten für weiteres Unbehagen sorgt.

2017 ist auch das Jahr, in dem Chinas Staatschef Xi Jinping gegenüber Hongkong erstmals von roten Linien spricht, die die Stadt nicht überschreiten dürfe. Eine unmißverständliche Drohung, die bei nicht wenigen Amtsträgern und Medienvertretern zu Selbstzensur führte. 

Mit dem Beginn der jüngsten Proteste ist auch Joshua Wong wieder in die Freiheit entlassen worden, nachdem er eine einmonatige Haftstrafe im Stadtgefängnis Lai-Chi-Kok absitzen mußte. Wong gilt als Anführer der Hongkonger Demokratiebewegung. Vor fünf Jahren war er die zentrale Figur der Regenschirm-Proteste von 2014. Das hatte ausgereicht, um ihn hinter Gitter zu bringen.

Und es würde ihn wieder ins Gefängnis bringen, wenn das Auslieferungsgesetz in Kraft träte, ist Joshua Wong im Gespräch mit der JUNGEN FREIHEIT überzeugt. „Genau das ist unsere Sorge. Niemand könnte sich mehr sicher sein. So wie man vor einigen Jahren kritische Buchhändler einfach nach China verschleppte, könnte man uns dann auf ganz legalem Wege nach Demonstrationen aus dem Weg räumen und verschwinden lassen“, erklärt der 22jährige. 

Der Aussage Carrie Lams, wonach das Gesetz nun „tot“ sei, schenkt er keinen Glauben. „Warum nimmt sie es dann nicht ganz offiziell zurück?“ Forderungen nach Lams Rücktritt werden immer lauter.

Unterdessen betreibt ein mit ihm befreundeter Student einen Informationsstand auf dem Campus der Universität. Auf einer Folie sind hier Hunderte kleine Zettel angebracht. „Solidaritätsbekundungen mit unserer Bewegung“, erklärt er.

Studenten vom Festland fotografieren Protestler

Auch Bilder von der Erstürmung des Parlaments hängen hier. „Carry Lam hatte ja selbst immer wieder betont, daß friedliche Proteste nichts ändern würden. Jetzt haben wir Veränderungen“, meint ein weiterer Student, der seinen Namen nicht nennen will.

Im Parlament der Stadt haben währenddessen die Aufräumarbeiten begonnen. Graffiti an den Wänden des Gebäudes und zersplitterte Fensterscheiben zeugen noch von der Dramatik des 1. Juli, als Polizeikräfte die Protestler unter Einsatz von Schlagstöcken und Tränengas wieder aus dem Parlament vertrieben. Einige Demonstranten hatten gar die britische Flagge im Parlamentssaal aufgehängt.  Für den Abend haben Studenten eine Kundgebung auf dem Sun-Yat-Sen-Platz der Universität organisiert. Knapp 500 Leute sind gekommen, lauschen den Vorträgen studentischer Aktivisten und regierungskritischer Professoren. 

Darunter haben sich auch einige Peking-freundliche Studenten vom Festland gemischt, die als Austausch-Studenten die HKU besuchen. Sie machen Fotos von den Gesichtern der Demokratie-Befürworter. Einige der Fotografierten werden laut, protestieren gegen die unfreiwilligen Aufnahmen. „Wir wissen doch, wo diese Bilder landen“, ruft eine ältere Frau aufgebracht. „Das sind doch alles Verrückte hier in Hongkong. Der Kommunismus hat China großen Fortschritt gebracht“, stichelt dagegen einer der Pekingtreuen und fotografiert weiter Studenten und deren Infomaterial. 

Wie kleine Nadelstiche gegen die Regierung erfolgen täglich weitere Proteste über ganz Hongkong verteilt. „Die großen Demonstrationen finden jetzt immer am Wochenende statt“, erzählen die Demokratie-Aktivisten. Man habe aus den Fehlern der Regenschirm-Bewegung gelernt. Damals hatten die Protestler mit bis zu 200.000 Leuten wichtige Verkehrsknotenpunkte der Stadt blockiert. „Damit hatten wir uns aber auch den Ärger der Geschäftsleute zugezogen.“ Jetzt kämpfe man gemeinsam für die Demokratie. 

Am kommenden Sonntag wird es wieder eine Großdemonstration in Hongkong geben. „Wir rechnen mit bis zu 200.000 Teilnehmern“, sagt Wong und gibt sich optimistisch: Hongkong wird sich auch nach 2047 seine Freiheit nicht nehmen lassen. Ein Land, zwei Systeme wird bleiben.“