© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/19 / 19. Juli / 26. Juli 2019

Pankraz,
I. Eibl-Eibesfeldt und die Gastfreundschaft

Die gewaltigen Touristenströme, die jeden Sommer die moderne Welt durchpflügen, bewegen die diversen Regierungen und vor allem die Uno viel mehr als die (doch noch viel gewaltigeren) „Flüchtlingsströme“ aus Afrika und dem Nahen Osten. Und dabei kehren die Touristen  – im Gegensatz zu den politischen oder sozialen „Migranten“ – doch alle nach absolviertem Urlaub freiwillig in ihre Heimat zurück! Trotzdem hat die Uno bisher noch kein „Jahr der Migranten“ ausgerufen, wohl aber ein Jahr des Tourismus, das „Jahr des nachhaltigen Tourismus 2017“. Was ist da passiert?

Nun, das Wort „Nachhaltigkeit“ liefert Aufschluß. Man will die Touristenströme nicht abschaffen oder ihnen Einhalt gebieten, sondern man will sie gewissermaßen pazifizieren, ihnen ein zeitgeistgemäßes, unweltfreundliches Kleid verpassen. Dabei weiß jeder Klimaretter,  daß es für das Klima am besten wäre, wenn es den Tourimus überhaupt nicht gäbe. Zu Hause bleiben und Däumchen drehen  – das müßte man jedem Urlauber im ökologischen Interesse dringend raten. Aber es gibt eben auch ökonomische Interessen, und die haben, wenn es ums aktuelle Leben und Überleben geht, Vorrang.

Der Massentourismus ist – nicht zuletzt für sogenannte Schwellen- und Entwicklungsländer – zu einem Wirtschaftsfaktor allererster Güte geworden. Es sind überall ganze Tourismusindustrien entstanden, mit Hunderttausenden von Beschäftigten und ausgefuchsten Beraterstäben, die noch die abgelegensten Winkel mit neuartigen Angeboten „touristisch erschließen“, sie per Prospekt und Reiseführer als „einmalige Sehenswürdigkeit“ verkaufen. Es gibt bereits Länder, in denen der Massentourismus als wichtigster Bestandteil des nationalen Haushalts geführt wird, ohne den man gar nicht mehr überleben könnte.


In anderen Gegenden freilich, Städten, Provinzen, ganzen Staaten, offenbart dieser  Massentourismus inzwischen schon jetzt eine höchst unerfreuliche Kehrseite, in des Wortes genauer Bedeutung. Das heißt, er trägt rapide zur Verschmutzung, Banalisierung und Zerstörung der besuchten Sehenswürdigkeiten bei. Massentouristen von heute sind eben keine gebildeten Einzelreisenden vom Schlage eines Goethe oder Seume mehr. Sie verstreuen schädlichen Abfall, trampeln über verbotene Pfade, stören – etwa bei Kirchenbesichtigungen – tief in die Seelen der Besucher eingeschliffene Rituale.

Kein städtischer Reisebegleiter, kein aufmerksamer Ranger bei Begehung ländlicher Flure und Wälder kommt da letztlich noch mit, keine plakatierte Einzelvorschrift hilft mehr, die Gesetze der blinden Vermassung setzen sich allerorten durch. Die Stadtverwaltung von Venedig hat jetzt in ihrer Verzweiflung angekündigt, sie werde demnächst den Tourismus in ihrer Stadt generell regulieren, es werde künftig – ähnlich wie eine Autobahnmaut – eine Innenstadt-Maut nebst Anstecknadel geben; jeder Stadtbürger bekomme sie kostenlos, Besucher müßten für sie bezahlen. 

Vergleichbar verzweifelt und ratlos klang vor zwei Jahren übrigens schon die Uno-Deklaration zur Verkündung des „Jahres des nachhaltigen Tourismus 2017“. Nichts als leeres, in kleinster tagespolitischer Münze offeriertes Geschwätz las man da.

Und schlimmer noch: Es war  ein Geschwätz ohne auch nur einen Anflug von Gastfreundschaft und Freude an der Gastlichkeit. An sich besteht der Tourismus ja aus echten Erquickungsreisen, man will Neues erfahren, sich aber in erster Linie auch vergnügen, unterhalten, auch ablenken lassen. All das wird von der Uno mit ihrer Deklaration regelrecht verraten und durch ödeste Steißpaukerei ersetzt.

Fast muß man sich als Bewohner des 21. Jahrhunderts dafür schämen in Erinnerung daran, was frühere Völker schon vor Tausenden von Jahren zum Thema Tourismus, will sagen: Gast und Gastfreundschaft, gedacht, ausgeübt und zum Teil auch schon kodifiziert haben. Irenäus Eibl-Eibesfeldt (1928–2018), der exzellente östereichische Evolutionsbiologe und Verhaltensforscher, Star der berühmten Starnberger Schule für Humanethologie (Konrad Lorenz, Hans Hass, Otto Koe-nig) und einer der beredtesten Naturschützer unserer Zeit, hat darüber in seinen Werken erhellend Auskunft gegeben.


Als gelernter Biologe ging Eibl-Eibesfeldt von der Beobachtung aus, daß natürliche Lebensgemeinschaften, also auch Menschengemeinschaften, eine eingeborene Scheu, ja Furcht vor Fremdlingen haben, gerade auch Fremdlingen der eigenen Art, falls sie nicht über den gewohnten „Stallgeruch“ verfügen. Sie werden, wenn sie vor der Gemeinschaft auftauchen, sorgfältig fixiert und befragt. Sind es Feinde? Wollen sie uns vertreiben oder versklaven? Oder kommen sie als Gäste, als freundliche Besucher  auf Zeit, als durchreisende  „Touristen“? Oder wollen sie gar in unsere Gemeinde auf Dauer aufgenommen werden? 

Es gibt also laut Eibl-Eibesfeldt drei Arten von Fremdlingen: Verfolger (Feinde), Gäste (Touristen) und Bewerber (Nächste). Für jede Art gelten eigene Regeln, wie sie schon in einigen Codices der Frühzeit, beispielsweise im alten Testament, aufleuchten. Feinde muß man mit Waffengewalt bekämpfen, Bewerber müssen Treueschwüre leisten und sich strengen Prüfungen unterwerfen. Für die Gäste aber gilt das Gastrecht.

Pflichten und Rechte der Gäste wie der Gastgeber sind zwar präzise markiert, doch über allem liegt doch ein hübscher Schleier von Freundlichkeit und gegenseitiger Höflichkeit. Nicht zuletzt die zeitliche Begrenztheit  einer Gästeschaft macht das möglich. Man weiß, daß man nicht für allzu lange beisammen ist, will sich deshalb möglichst von seiner besten Seite zeigen und hält sich mit Zornausbrüchen und Ähnlichem zurück. „Zornmütige“, riet deshalb schon Euripides, „sollten sich öfter Gäste einladen.“

Ob das auch noch heute gilt? Der Massentourist führt sich ja inzwischen an seinen Zielorten wie jener Steinerne Gast aus Mozarts „Don Giovanni“ auf, und die Gastgeber wollen nur Geld verdienen. Irenäus, hilf!