© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/19 / 19. Juli / 26. Juli 2019

Ohne Stil und Finesse
Bundespräsident: Frank-Walter Steinmeiers Defizite spiegeln den Zustand der Republik wider
Thorsten Hinz

In der Bundestagsdebatte zum 70. Jahrestag der Verkündung des Grundgesetzes am 23. Mai ging der AfD-Abgeordnete Stephan Brandner den Bundespräsidenten, der auf der Gästetribüne Platz genommen hatte, direkt verbal an: „Der Rechtsstaat erodiert, und das auf nahezu sämtlichen Ebenen. Fangen wir ganz oben an, beim Staatsoberhaupt. Guten Tag, Herr Steinmeier.“ Dann fuhr er fort: „Sie machten offen Werbung für linksextremistische Veranstaltungen, wie der Verfassungsschutz von Sachsen kürzlich herausgefunden hat, für Veranstaltungen, auf denen sogenannte Musikgruppen ihre primitiven Gewaltphantasien ausgelebt hatten. Ich meine die peinliche Veranstaltung in Chemnitz.“

Brandner spielte darauf an, daß Steinmeier im Herbst vergangenen Jahres auf Facebook ein Konzert „gegen Rechts“ in Chemnitz unterstützt hatte, bei dem auch die linksradikale Punkband Feine Sahne Fischfilet aufgetreten war. Die Band ist bekannt geworden mit Texten wie: „Punk heißt gegen’s Vaterland, das ist doch allen klar / Deutschland verrecke, das wäre wunderbar! / Heute wird geteilt, was das Zeug hält / Deutschland ist scheiße, Deutschland ist Dreck! “ In einem anderen Lied wird Polizisten gedroht: „Eure Knüppel kriegt ihr in die Fresse rein.“

Sehr viel weiter kam der AfD-Mann mit seiner Rüge nicht, denn Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) unterbrach ihn: „Herr Kollege Brandner, der Bundespräsident ist unser aller Staatsoberhaupt. Wenn er uns die Ehre antut, an unserer Debatte teilzunehmen, ist das nicht für Sie die Gelegenheit, ihn zu kritisieren. Bitte unterlassen Sie das!“ 

Schäuble hob auf die besondere Stellung ab, die der Bundespräsident im Staatsgefüge einnimmt. Seine Wahl wird als ein besonderes weihevoller Akt durch die Bundesversammlung zelebriert, die einzig zu diesem Zweck zusammentritt. Die Zahl der Bundestagsabgeordneten wird durch die Delegierten der Landesparlamente verdoppelt, was mit sich bringt, daß „unser Präsident von Politikern, Gauklern, Transvestiten, Schlagersängern, fahrendem Volk und Schauspielern gewählt“ wird, wie der Journalist Stephan Paetow einmal meinte. Überraschungen beim Auszählen der Stimmen gibt es trotzdem nicht. Bisher sind die Entscheidungen immer entlang der festgelegten Partei- und Koalitionslinien gefallen.

Eine Spezialität im Strafgesetzbuch stellt der Paragraph 90 dar, der exklusiv die „Verunglimpfung des Bundespräsidenten“ behandelt. Es handelt sich um ein Erbe der Majestätsbeleidigung, die schon im Römischen Reich als Straftatbestand eingeführt und im Mittelalter vom Papst erneuert wurde. Da die Monarchen durch das Gottesgnadentum legitimiert waren, bedeutete ein Angriff auf sie auch die Beleidigung Gottes.

Im Absolutismus war der König das Symbol des Staates beziehungsweise – nach dem Ausspruch Ludwig XIV.: „Der Staat bin ich“ – der Staat selbst. Den König zu bezweifeln war mithin dem Hochverrat vergleichbar. Ernst Kantorowicz hat in der voluminösen Studie „Die zwei Körper des Königs“ herausgearbeitet, wie die ewige Dimension des Staates in der Leiblichkeit des Staatsoberhaupts konkret wird und diese zugleich transzendiert. In diesem Sinne betraf Brandners Attacke auf Steinmeier auch den Staat als Ganzes. Der Bundespräsident drohte zu einer Karikatur, zur einer Verkörperung der „Herrschaft des Unrechts“ beziehungsweise des institutionalisierten Rechtsbruchs zu geraten. Wolfgang Schäubles Intervention besaß demzufolge einen tieferen, einen staatstragenden Sinn.

Nur geht es bei der Wahl des Bundespräsidenten weniger um die Staats- als um die Parteien- und Koalitionsräson, weshalb die weihevolle Inthronisation auch eine Eulenspiegelei ist. Am 12. Februar 2017 wurde Frank-Walter Steinmeier zwar mit 931 von 1.239 gültigen Stimmen im ersten Wahlgang gewählt, doch war das ein rein formaler Vorgang. Das Abstimmungsverhalten in der Bundesversammlung war festgelegt durch genau drei Personen, durch die Parteivorsitzenden von CDU, CSU und SPD, die sich auf den damaligen Außenminister Steinmeier als neues Staatsoberhaupt geeinigt hatten.

Der jeweils Gewählte steht, will er den Erwartungsrahmen des Amtes ausfüllen, vor der Aufgabe, über die Umstände seiner Wahl hinauszuwachsen, ja sie vergessen zu machen. Ein gewähltes Staatsoberhaupt muß, um die Staats-

idee zu repräsentieren, sich auch als Persönlichkeit legitimieren. Nur zwei Bundespräsidenten ist diese transzendentale Verbindung wirklich gelungen: dem Bildungsbürger Theodor Heuss (1949–1959) sowie – mit seinem aristokratischen Stilempfinden, nicht mit seiner problematischen Rede zum 8. Mai – Richard von Weizsäcker (1984–1994), der der staatlichen Repräsentation eine ansprechende Form verlieh. So nahm er seinen Wohn- im Bonner Amtssitz des Präsidenten, in der Villa Hammerschmidt, um nach außen die Person mit dem Amt zu verschmelzen.

Die meisten anderen Amtsinhaber sind schon vergessen, einer – Christian Wulff – war ein Totalausfall. Von Steinmeiers Vorgänger Joachim Gauck wird lediglich das Wort „Dunkeldeutschland“ in Erinnerung bleiben, das er gegen Kritiker der Masseneinwanderung richtete. Damit schuf er einen gefährlichen Präzedenzfall, weil er Regierungskritiker als „böse“ – das heißt als inneren Feind – markierte und dem Staatsverständnis eine autoaggressive und zugleich obrigkeitsstaatliche Wendung gab.

Steinmeier hat nicht einmal versucht, aus dem speziellen Schatten Gaucks herauszutreten. Weder ist er ein Charismatiker noch ein glänzender Redner, noch ein Philosoph. Seine Wirkungsstätten waren ursprünglich die Vor- und Hinterzimmer; er entspricht eher einem effizienten Beamten als einem Politiker. Für den niedersächsischen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder war er als Büroleiter tätig; später folgte er ihm nach Berlin und wurde Chef des Bundeskanzleramtes. Ein Politiker, so Max Weber, bestimmt die Richtlinien; der Beamte führt sie aus. Er darf Bedenken vorbringen; dringt er mit ihnen nicht durch, kann er höchstens seinen Abschied nehmen. Steinmeier wurde nach Schröders Abwahl 2005 im Merkel-Kabinett erstmals Außenminister. Er kann für sich in Anspruch nehmen, keinen Schaden angerichtet und auch nicht nach billigen Effekten gehascht zu haben wie Guido Westerwelle in dessen Zeit als Außenminister. 

Seitdem gibt er aber auch ein Beispiel für den Provinzialismus bundesdeutscher Politiker, den Karl Heinz Bohrer als die „Abwesenheit von Finesse, Mangel an Artikulation (…), eine merkwürdige Verwaschenheit der Züge“, verbunden mit „moralischem Aplomb“ definierte. Im politisch so gut wie kompetenzfreien, dafür mit repräsentativen Aufgaben und transzendentalen Erwartungen befrachteten Präsidentenamt werden diese Eigenschaften voll kenntlich.

Über die in Italien festgesetzte Mittelmeer-Reisende Carola Rackete äußerte er sich in einer Mischung aus Plumpheit und moralischem Völlegefühl: „Wir dürfen von einem Land wie Italien erwarten, daß es mit einem solchen Fall anders umgeht.“ Denn: „Wer Menschenleben rettet, kann kein Verbrecher sein.“ Abgesehen vom diplomatischen Fauxpas, der das Ausland an das Geräusch deutscher Knobelbecher erinnert, war das aus dem Munde des Staatsoberhaupts – eines promovierten Juristen immerhin – die gesinnungsethische Ermächtigung zum Rechtsbruch. Auch blieb Steinmeier die Auskunft schuldig, wohin die professionelle Einholung von Afrikanern nach Europa angesichts der dortigen Bevölkerungsexplosion eigentlich führen soll. Es mangelt außer der Artikulation auch an Reflexion.

Gleiches gilt für innenpolitische Stellungnahmen. Die Empfehlung zum Besuch des Konzerts in Chemnitz verteidigte er mit dem Hinweis auf einen aufgeblähten Medien-Popanz: Es stehe Grundsätzliches in Frage, „wenn in Deutschland Hakenkreuzfahnen, Reichskriegsflaggen und Nazisymbole getragen werden und andere keine Notwendigkeit verspüren, sich davon zu distanzieren“. Die präsidiale Unterstützung für das Chemnitz-Event war nicht nur wegen der Teilnahme von Feine Sahne Fischfilet fatal; das Konzert an sich war pietät- und geschmacklos. Ein Bürger des Landes war von Ausländern ermordet worden, die überhaupt erst leichtfertig ins Land gelassen wurden. Vor dem Hintergrund der Bluttat ein Konzert abzuhalten, um den aufwallenden Zorn darüber zu ersticken und Loyalität zur Regierungspolitik zu organisieren, kam einem Tanz auf dem Grab des Opfers gleich.

So hatten auf ihre Weise beide recht: der AfD-Abgeordnete Brandner mit der Kritik an der Person Frank-Walter Steinmeiers genauso wie Bundestagspräsident Schäuble, der das Staatsoberhaupt vor der Fortsetzung der Strafpredigt schützte. Steinmeier spricht gewiß nicht in „unser aller“ Namen. Sein Defizit an Stil und Finesse aber drückt nun mal aus, was die Bundesrepublik heute ist.