© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/19 / 19. Juli / 26. Juli 2019

Im Käfig der perfekten Stadt
Wohlstandsverwahrlosung: Cyril Schäublin zeigt uns im Kino „Dene wos guet geit“
Sebastian Hennig

Ein bekanntes Lied des in der Schweiz berühmten Sängers Mani Matter handelt von „Dene wos guet geit“. Der Betrachter des gleichnamigen Films von Cyril Schäublin könnte wie ein vom Treiben übermütiger Kinder genervter Erwachsener fragen: Euch geht es wohl zu gut? Ohne einen Handlungsstrang zu beenden, einen konkreten Ort zu beschreiben oder nur eine Person zu charakterisieren wird ein unverstelltes Bild der Wohlstandsverwahrlosung gegeben.

Der Regisseur entstammt einer Uhrmacherfamilie. „Dene wos guet geit“ ähnelt einem Chronometer ohne Ziffernblatt, bei dem der stolze Feinmechaniker durchs Deckglas alle Lager, Räder, Federn und Wellen sichtbar läßt. Wobei der Film im übertragenen Sinne sogar noch auf die Zeiger verzichtet. Wo sich aus dem diffusen Geschehen eine verbindliche Handlung schälen könnte wird jeder Anflug von Bedeutung sogleich zerstreut. Das Beiläufige wirkt zielstrebig und das Kalkulierte verliert sich im Zufall. Sichtbar ist nur das Akute und Konkrete. Es wird keine Schlußfolgerung über Motivationen und Milieu angeregt. Das Zürich des Filmgeschehens besteht aus gleichgültigen Fahrbahnen, Fußwegen, Fluren und Gebüsch ohne jede Signifikanz. 

Alice (Sarah Stauffer) verdient in einem Großraumbüro Geld mit Telefonieren. Im Dämmerlicht lauern die Anrufer mit Mikrofon und Kopfhörer. Sie schwatzen ihre Opfer zu Kunden um. Die süßen Überredungskünste grenzen an Überwältigung. Sicherheitsabfragen werden vorgetäuscht, um Geburtsdatum und Kontostand abzulisten. Ob Alice als Studentin etwas hinzuverdient oder hauptberuflich der telefonischen Nötigung nachgeht, bleibt offen.

Jedenfalls wendet sie die dort erworbenen Fähigkeiten und Kenntnisse zur eigenen Bereicherung an, indem sie ältere Damen mit dem klassischen Enkeltrick zur Bargeldübergabe bringt. Dabei ist das nur die heftigste Manifestation einer allgemeinen Gefühlskälte von Menschen, für die alles geregelt erscheint. Wir begegnen ihnen auf mehreren Schauplätzen.

Ein Prolog zu Beginn des Filmes, dessen schweizerdeutsche Dialoge komplett untertitelt sind, zeigt drei Personen vor strömendem Wasser. Zwei saturiert verschweizerte Araber werden in ihrer Muttersprache mit Schweizer Akzent von einer Frau über den Trickbetrug unterrichtet. Gemeinsam versuchen sie sich vergeblich an den Titel eines Films zu erinnern, der dieses Thema gestaltet hat.

Alle Figuren sind durch ihr Nichthandeln verbunden

Weitere Schauplätze sind eine Privatbank, eine Polizeikontrolle und ein Altersheim. Alle sind durch schwatzhafte Ereignislosigkeit untereinander verbunden. Die Patrouille in der schwarzen Montur der Spezialkräfte besteht aus jungen Männern und Frauen ganz ähnlich jenen im Callcenter. Wie die Zivilen der Stadtpolizei, die den Trickbetrug aufklären sollen, unterhalten sie sich zumeist über die Tarife von Krankenversicherungen, Internet und Telefon, die dort angeboten werden. Ein Arzt befragt den Pfleger über den Zustand der Patientinnen und antwortet lakonisch mit Medikamentennamen und Milligrammwerten.

Mehr und scheinbar persönlichere Ansprachen kommen nur zustande, wenn ein reicher Russe von den Angestellten der Privatbank überprüft wird oder die Telefonisten ihre Opfer abschätzen. Das schwyzerdütsche Aufsagen von Zahlen als Kennziffern, Zugangsschlüssel, Preis- und Datumsangaben hat als letzte Konsequenz des calvinistischen Wesens etwas Religiös-Liturgisches. Alle Figuren sind durch ihr Nichthandeln in einem Verblendungszusammenhang verbunden. Anstatt zu kommunizieren, werden Angaben über die Kosten der Kommunikation ausgetauscht. 

Das Gewicht der eigentlichen kriminellen Handlung, wenn Alice mit ihrem ebenmäßigen Püppchengesicht die Greisinnen ausnimmt, verdunstet in dem allgemeinen Äther organisierter Vorteilsnahme. Die wahre Enkelin ist beim Verhör zerstreut und gibt an, die Großmutter nur ein-, zweimal im Jahr gesehen zu haben. Erst recht gegenüber der Szene der Bargeldabhebung wirkt die Täuschung wie eine Bagatelle. In Abwandlung von Bertolt Brechts Feststellung, was der Überfall einer Bank gegen die Gründung einer Bank sei, scheint die Frage auf, was ist die Anwendung eines Enkeltricks gegen die Praktiken einer Schweizer Privatbank.

Der Film gibt Einblicke ohne Ausdeutungen. Das Dämonische der technischen Welt wird sichtbar gemacht. Die detaillierte Fotografie des Films zeigt eine saubere Gegend mit einsamen Mülleimern in gepflegten Anlagen, markierten Asphaltflächen und landschaftsgärtnerisch zubereiteten Beton. Vor dem Trio vom Anfang huschen gelegentlich die flüchtigen Schatten von Läufern vorbei. Die Reflektoren an einer Autokarosse sausen wie ferngesteuerte Sonden waagerecht durch das Bild. Sie durchziehen geisterhaft die Taster einer Ampelanlage.

Diese Bilder bewirken noch mehr als die Dialoge der Schauspieler eine eigentümliche Atmosphäre. Denn die Signatur der technischen Anlagen dringt in unsere Sprache und unser Empfinden ein. Die Szenerie der perfekten Stadt ist ein Käfig, in dem der Mensch ruhelos seine sinnentleerten Kreise zieht. Der nur siebzigminütige Film fühlt sich an, als liefe er drei Stunden.