© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/19 / 02. August 2019

„Gewaltiger Exodus gen Europa“
Afrikas Bevölkerungsexplosion droht erst den eigenen, dann unseren Kontinent zu verwüsten. Ist die Katastrophe noch abzuwenden? Ja, sagt Entwicklungshelfer Fabrizio Fratus, wenn erkannt wird, daß die Bildungskrise das wahre Problem des Schwarzen Erdteils ist
Alessandro Petri

Herr Fratus, ist Afrika noch zu retten?

Fabrizio Fratus: Das glaube ich, ja. Durch unser Hilfswerk Reach Italia bekommen zum Beispiel Kinder dort pro Monat 25 Euro, um für diese Zeit ihre Versorgung mit Nahrung, Gesundheitsfürsorge und Bildung sicherzustellen. Durch unsere Erfahrung sind wir überzeugt, daß eines der schlimmsten Probleme Afrikas der Analphabetismus ist.

Nicht Hunger, Durst oder Krieg?

Fratus: Seine Staaten befinden sich auf verschiedenen Entwicklungsstufen und haben daher verschiedene Probleme. Doch blickt man auf Afrika insgesamt, wird deutlich, daß Analphabetismus und Bildungsmangel ein strukturelles Problem des ganzen Kontinents sind. Warum? Weil überall in Afrika die Menschen unter der unfairen Umverteilung der Ressourcen leiden, da das zu tiefer Armut der großen Mehrheit der Bevölkerung führt. Ursache ist die Ausbeutungspolitik einiger westlicher Mächte, aber auch der Mangel an einheimischen gebildeten Eliten. Denn wer eine Ausbildung erhält, geht fast immer in den Westen. Zum Beispiel arbeiten inzwischen fünfzig Prozent der Ärzte Malawis, eines der ärmsten Länder der Welt, in London. Burkina Faso, wo ich regelmäßig bin, ist sogar das zweitärmste Land der Welt, gleichzeitig aber einer der wichtigsten Lieferanten für Gold. Ohne ausgebildete Elite können die Staaten ihre Rohstoffe nicht zu ihrem Nutzen verwenden – doch ohne das wächst der Inlandskonsum nicht. Und ohne den gibt es kein Wirtschaftswachstum.

Hat Afrika aber inzwischen nicht ein noch viel drängenderes Problem – nämlich sein ungeheures Bevölkerungswachstum?

Fratus: Nein, das Bevölkerungswachstum selbst ist kein Problem. 

Wie bitte? Das sagt doch jeder Experte! 

Fratus: Ich weiß, doch ich sage: Ein Problem entsteht daraus erst dann, wenn das Bevölkerungswachstum nicht von Wirtschaftswachstum begleitet wird. Heute hat der Schwarze Kontinent etwa 1,3 Milliarden Einwohner, in wenigen Jahrzehnten aber werden es drei Milliarden sein! Und ja, ohne entsprechende Volkswirtschaft wird das zu einem gewaltigen Exodus gen Europa führen.

Ab welcher Bevölkerungszahl genau wird die Krise eintreten? 

Fratus: Wieso „wird“? Die hat längst begonnen! Und quasi täglich wird sie gefährlicher. Die Krise ist also längst da, sie schwillt nur weiter an, und gelingt es nicht, das wie von mir beschrieben auszugleichen, wird sie in der Tat in einigen Jahren zum riesigen Problem nicht mehr nur für Afrika, sondern auch für Europa.

Immer wieder heißt es aber, sowohl Afrika als auch Europa profitieren von Migration.

Fratus: Es gibt in der Geschichte kein Beispiel, in dem die Entvölkerung eines Landes diesem Fortschritt gebracht hat. Nehmen Sie etwa eine Auswanderungsregion wie Süditalien, die dadurch nichts gewonnen hat. 

Sie meinen also, daß gegen die Gefahr, die infolge der afrikanischen Bevölkerungsexplosion entstehen wird, durchaus etwas getan werden kann?

Fratus: Ja, allerdings nur, wenn Europa zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit mit China findet.

Warum mit China?

Fratus: Nun, Großbritannien und Frankreich sind bekanntlich schon seit Jahrhunderten in Afrika präsent – haben dort allerdings nie ein solides und selbstversorgendes System eingeführt. Heute haben zudem die USA durch von ihnen kontrollierte NGO – also die Nichtregierungsorganisationen – eine erhebliche Präsenz. Diese Mächte sehen sich inzwischen einem sehr starken Konkurrenten gegenüber – China. Doch anders als die westlichen Mächte investiert es dort ohne kapitalistische Ausbeutungsperspektive, weil Afrika für Peking ein Mittel ist, seine internen Probleme zu lösen.

China löst seine „internen Probleme“ in Afrika? Wie denn das?

Fratus: Das Reich der Mitte hat inzwischen etwa 1,5 Milliarden Einwohner – das sind rund zwanzig Prozent der Weltbevölkerung und es erlebt selbst eine Bevölkerungsexplosion. Doch verfügt es nur über sieben Prozent der weltweiten Anbauflächen. Seitdem die individuellen und kollektiven Ansprüche der Chinesen gestiegen sind, ist Peking auf der Suche nach neuen Nachschubquellen für Nahrungsmittel, Energie und Ressourcen: in Asien, in Lateinamerika, vor allem aber in Afrika. Auch wenn die chinesische Güterverteilung besser als die afrikanische funktioniert, leidet das Riesenreich doch unter inländischem Ressourcenmangel – den es mit Investition vor allem in Afrika beheben will.

Also eine Art neuer Kolonialismus?

Fratus: Nein, das hat mit klassischem, kapitalistischem Kolonialismus nichts zu tun. Doch entspricht diese Politik dem immer stärker werdenden Einfluß Chinas in der Welt. Ein Urteil darüber können aber nur die von Peking beeinflußten Regierungen und Völker abgeben.

Und was halten die Afrikaner davon?

Fratus: Viele ihrer Regierungen sehen die chinesische Präsenz positiv, weil sie Geld ins Land bringt. Trotzdem aber führt das oft nicht zu Fortschritten vor Ort. Denn die Chinesen nutzen fast nie lokale Arbeitskräfte. Normalerweise schließen sie mit afrikanischen Regierungen Abkommen und kaufen sehr viel Land, auf dem dann importierte Chinesen arbeiten. Also: Anders als andere Mächte haben die Chinesen zwar kein Interesse, die sehr schwache afrikanische Wirtschaft auszubeuten, kaufen das Land aber vor allem aus zwei Gründen: Erstens, um Nahrungsmittel für das Mutterland anzubauen. Zweitens, um ganze Bevölkerungsteile nach Afrika zu verfrachten. In Zentralafrika hat Peking schon ganze Metropolen errichten lassen, die noch leer sind und auf Massenmigration aus der Heimat warten.

Welchen Effekt wird das für Afrika haben?

Fratus: Aus unserer europäischen Perspektive ist die chinesische Methode sehr gefährlich, weil sie die afrikanische Massenauswanderung nach Europa anheizen könnte. Denn obwohl sie nicht das Ziel hat, Afrika auszubeuten, führt sie dort zur Entwicklung einer der einheimischen überlegenen Parallelwirtschaft. Es handelt sich also nicht um Hilfe vor Ort für die Afrikaner, so wie das nötig wäre, sondern lediglich um einen ökonomischen Austausch und den Transfer von Menschen – der aber den afrikanischen Inlandskonsum nicht fördert! Und je intensiver die Chinesen diese Strategie verfolgen, desto weniger kommen die Afrikaner in den Genuß der Ressourcen ihrer Länder, die statt dessen die Chinesen nutzen. Doch seine Ressourcen nicht selbst auszubeuten bedeutet auch, kein Konsumwachstum zu haben. Was steigende Armut zur Folge hat und diese wiederum steigende Auswanderung.

Und welche Lösung sehen Sie nun?

Fratus: Der italienische Ex-Premierminister Romano Prodi sagte jüngst, daß wenn wir die Migrationswelle nach Europa regulieren wollen, wir mit Peking eine gemeinsame Strategie entwickeln sollten. China und Europa haben in diesem Bereich die gleichen Interessen. Dennoch aber scheint sich eine Zusammenarbeit sehr schwierig zu gestalten.

Warum?

Fratus: Weil es den Europäern an der dafür nötigen Einheit fehlt. Denn eine einheitliche Zusammenarbeit mit China würde zur Verringerung des Einflusses einiger Staaten im englisch- und französischsprachigen Afrika führen, der ein Erbe des Kolonialismus ist.

Ein Entschärfung der Gefahr, die aus der Bevölkerungsexplosion erwächst, steht also im Widerspruch zu – im Klartext – den Interessen von Briten und Franzosen?

Fratus: Sie steht im Widerspruch zu den Interessen jeder Macht, die einen spezifischen Einfluß auf afrikanische Regierungen hat. Es sind übrigens gerade jene europäischen Regierungen, die sich besonders gern betont proeuropäisch geben, die bis heute nicht dazu bereit sind, auch nur einen kleinen Teil ihrer Interessen für eine gemeinsame europäische Strategie in Afrika aufzugeben. Aber es ist sowieso erstaunlich: In Europa wird fast nur noch von der Massenzuwanderung gesprochen. Und trotzdem hat Afrika für Europa keine Priorität, wie es konsequenterweise eigentlich sein müßte. Man starrt also immerzu auf die drohende Konsequenz, statt sich ebenso ihrem Ursprung zu widmen.

Sollte Ihr Vorschlag einer europäisch-chinesischen Strategie zur Entwicklung Afrikas nicht zustande kommen oder nicht den erhofften Effekt zeigen, wird Europa immer gewaltigere Migrationswellen erleben. Was dann, die „Festung“ schließen?

Fratus: Das Problem ist, daß der Migrationsdruck irgendwann so stark sein wird, daß auch die Schließung der europäischen Südgrenze im Mittelmeer keine nachhaltige Lösung bringen wird. 

Warum nicht? Italiens derzeitige Politik etwa hat doch schon Erfolge gebracht. 

Fratus: In der Tat muß man zugeben, daß die Grenzverteidigung Roms und die Bekämpfung illegaler Schlepper zur drastischen Senkung der Zahl der Toten im Mittelmeer geführt haben. Man muß aber bedenken, daß dieser Erfolg nicht nur der Politik des italienischen Innenministers Matteo Salvini zu verdanken ist, sondern auch dem Umstand, daß die Zahl der Einwanderer aus Libyen an sich in den letzten Monaten gesunken ist. 

Moment, steht das nun nicht in Widerspruch zu dem, was Sie bisher gesagt haben?

Fratus: Nein, weil ich nur von der Einwanderung via Libyen gesprochen habe. Die Zahl der zentralafrikanischen Migranten, die es derzeit noch schaffen, das Land zu erreichen, um von dort nach Italien überzusetzen, ist zur Zeit nur noch gering.

Was ist der Grund dafür? 

Fratus: Weil der Großteil der Migranten in Mali, Niger und Burkina Faso gestoppt wird. Und zwar von lokalen islamistischen Milizen, die in diesen Staaten Krieg führen – auch wenn die Medien fast nie darüber berichten. Denn als vor ein paar Jahren klar wurde, daß die Dschihadisten den Krieg in Syrien und Irak verlieren würden, haben ihre Anführer einen Plan B entwickelt und begonnen, sich stark in Mali, Niger und Burkina Faso zu engagieren, wo ihre Einheiten heute den Norden dieser Länder teilweise kontrollieren und für Unsicherheit sorgen. So finden dort regelmäßig Anschläge statt, und man kann nicht mehr durchreisen.

Fördert das nicht gerade Flucht und Migration?

Fratus: Eigentlich ja, aber da die Kämpfer die Migranten abfangen und ihnen sogar guten Lohn bieten, wenn sie sich ihnen anschließen, doch nicht. Wir Europäer aber sehen uns der paradoxen Situation gegenüber, daß es gerade die islamistischen Terrorgruppen sind, die die Migration verringern. Das ist gefährlich, weil wir so in die Lage kommen könnten, mit diesen verhandeln zu müssen, um künftig Migration zu regulieren.

Also, was tun?

Fratus: Erstens, die Politik der europäischen Staaten so stark wie möglich auf Afrika fokussieren! Zweitens, die richtigen Ansprechpartner finden – wie gesagt, vor allem China! Italien hatte übrigens vor einigen Jahren bereits gute Ansprechpartner vor Ort gefunden, etwa Muammar al-Gaddafi in Libyen. Sicher, er war ein Diktator, aber mit ihm konnte man reden und die Migration regulieren. Leider jedoch wurde er 2011 von den Alliierten Italiens gestürzt. Letztlich werden uns angesichts der Bevölkerungsentwicklung Regulierung und Eindämmung allein nicht helfen und, drittens, ohne langfristige Investitionen nach dem Konzept der Hilfe vor Ort wird Europa sich vor dem, was da in Afrika entsteht, nicht retten können.






Fabrizio Fratus, ist Vorstandsmitglied der italienischen Abteilung des internationalen Kinderhilfswerks „Reach“ („Render Effective Aid to Children“, Wirksame Hilfe für Kinder) mit Hauptsitz in den USA. In Afrika leistet Reach Entwicklungshilfe, vor allem im Kongo, in Ruanda, Burkina Faso, Mali und Niger. Finanziert wird „Reach Italia“ von der protestantischen Waldenserkirche und privaten Spendern. Geboren wurde der Soziologe, Publizist und Entwicklungshelfer 1973 in Mailand. 

Foto: Immer mehr Menschen in Afrika: „Das Bevölkerungswachstum ist gar nicht das Problem, sondern daß die afrikanischen Staaten kein entsprechendes Wirtschaftswachstum haben. Das wiederum haben sie nicht, weil sie ihre Ressourcen nicht selbst nutzen können – weil ihnen die dafür nötige gebildete Elite fehlt. Denn wer Bildung erhält, geht fast immer in den Westen“

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