© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/19 / 02. August 2019

Sicherheit fährt hinterher
Investitionsstau: Sanierungskosten für deutsche Bahnbrücken verdreifacht / Statistisch sind die Bauwerke über 16 Jahre älter als gedacht
Paul Leonhard

Die Saale-Elster-Talbrücke in Sachsen-Anhalt ist mit 8.614 Metern die längste Eisenbahnbrücke Deutschlands. Die Müngstener Brücke bei Solingen ist mit 107 Metern Höhe die höchste, in Betrieb befindliche Eisenbahnbrücke. Sie wurde 1897 auf der Strecke Wuppertal-Oberbarmen errichtet. Derart Wissenswertes vermittelt die Deutsche Bahn ihren Kunden im Internet. Sogar eine Brückenkarte gibt es, auf der der Reisende mehr als 25.000 deutsche Eisenbahnbrücken einzeln aufrufen und sich über Zustand, Baujahr, Bauform und Modernisierungsdatum informieren kann.

Erstaunlich ist dabei, daß die meisten Eisenbahnbrücken angeblich 1927 errichtet wurden. Das fiel auch dem Eisenbahn-Bundesamt auf, das daraufhin die Statistiken der DB Netz AG prüfen ließ. Es stellte sich heraus, daß die Bahntochter, die seit der Bahnreform von 1994 alle bundeseigenen Anlagen verwaltet, mit falschen Statistiken gearbeitet hat.

20 Prozent mehr Brücken sind über hundert Jahre

Inzwischen räumt das Unternehmen ein, daß das Brücken-Aktivierungsjahr nicht in jedem Fall das Baujahr sei: Im Zuge der digitalen Bestandsaufnahme sämtlicher Brückendaten habe man für die meisten bis 1927 gebauten Brücken dieses Jahr als „Aktivierungsjahr“ eingesetzt. Die Datenbasis werde derzeit aktualisiert, so daß künftig das exakte Baujahr abgerufen werden könne.

Auch die bisherige Nutzungsdauer mußte bei mehr als 13.500 Brücken drastisch nach oben korrigiert werden und stieg damit durchschnittlich um mehr als 16 Jahre auf über 73 Jahre und die Zahl der mehr als 100 Jahre alten Brücken damit um ein Fünftel, auf knapp 12.000.

Mit „dehnbaren“ Definitionen arbeitet die DB Netz AG auch beim Zustand der Eisenbahnbrücken. Nachdem aufgefallen war, daß selbst nagelneue Bauwerke in der Zustandskategorie 1 (punktuelle Schäden) standen, erklärte die Bahntocher: Da Eisenbahnbrücken eine durchschnittliche Lebensdauer von 122 Jahren hätte, das Regelwerk aber nur vier Zustandskategorien vorsehe, sei eine derartige Einordnung unausweichlich. Und jene mehr als 1.250 Brücken, deren Zustand so schlecht ist, daß eine wirtschaftliche Instandsetzung nicht möglich ist, würden kein Sicherheitsrisiko darstellen, denn sonst wären sie gesperrt.

Beruhigend klingt das alles nicht, vor allem mit Blick auf den Sanierungsstau bei der Bahn. Diese hatte sich vertraglich verpflichtet, 875, nach eigenen Angaben sogar mehr als 1.000, Eisenbahnbrücken zwischen 2015 und 2019 zu erneuern. Ende 2018 fehlten mehr als 500. Überdies seien „nur die kleinen Brücken angefaßt“ worden und nicht die, welche die Hauptverkehrslast tragen, kritisierte der Bundesrechnungshof.

Auch hatte sich der Staatskonzern einen Passus im Finanzierungmodell zunutze gemacht, nach dem zwischen Instandhaltungs- und Ersatzinvestitionen unterschieden wird. Letztere bezahlt der Bund, erstere die Bahn. Prompt verfiel vieles. Jüngst sorgte die private Länderbahn in Sachsen für Schlagzeilen, die unter Verweis auf das marode Schienennetz – verantwortlich ist die DB Netz AG – den Zugverkehr einstellte.

Hohe Baukosten treiben  die Preise zusätzlich

Die notwendigen Sanierungskosten hätten sich „in kurzer Zeit auf mehr als 25 Milliarden Euro verdreifacht“, schreibt der Tagesspiegel unter Verweis auf interne Unterlagen der Bahn AG: Während für 2015 und 2016 die Aufwendungen für Brücken jeweils bei rund acht Milliarden Euro lagen, lägen sie 2017 plötzlich bei 27,6 Milliarden Euro. Für 2019 werden 25,3 Milliarden Euro genannt. „Die Gesamtsumme des aktuellen Rückstaus beim Gleisnetz wird von der DB AG in der Tabelle mit knapp 50 Milliarden Euro angegeben, fast 50 Prozent mehr als noch 2016“, schreibt die Zeitung.

Während selbst im Bundestag thematisiert wurde, daß die DB-Netz AG für die Unterhaltung der Bahninfrastruktur immer Geld erhalte, diese aber immer maroder werde, macht die Bahntochter für die Mehrkosten den „generell angespannten Markt“ bei Bau- und Planungsleistungen verantwortlich: „Wir bemühen uns daher gemeinsam mit der Bauindustrie darum, Personalressourcen aufzubauen.“

Tatsächlich sind die Baupreise in den vergangenen Jahren explodiert. Allein 2017 wurden die Leistungen im konstruktiven Ingenieurbau um zwölf Prozent teurer, 2018 um acht Prozent und in diesem Jahr um fünf Prozent. Insgesamt haben sich die Baukosten im Brückensanierungsprogramm mehr als verdoppelt, teilte die Bundesregierung auf Anfrage der Grünen mit.

Die neue, Ende Juli zwischen Bahn und Bund geschlossene Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung (LuFV III) sieht für die nächsten zehn Jahre Investitionen von 86,2 Milliarden Euro vor, von denen 62 Milliarden der Bund und 24,2 Milliarden die Bahn trägt. Daß das Geld reicht, um das Schienennetz einschließlich der Brücken zu ertüchtigen, zweifelt die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft an. Nach ihren Berechnungen ist mindestens die doppelte Summe nötig, um neben den laufenden Modernisierungen auch 33.300 Kilometer Gleisnetz, 5.700 Bahnhöfe, 2.640 Stellwerke und 66.000 Weichen zu sanieren, ganz abgesehen von den maroden Brücken.