© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/19 / 02. August 2019

Pankraz,
die Braunkohle und der Mut zur Wildnis

Natur kontra Kultur. Um die aufgegebenen Braunkohlen-Abbau-reviere in der Lausitz ist ein interessanter Streit entstanden. Soll man sie „rekultivieren“ oder doch lieber „renaturieren“, was bedeutet: sich selbst, also der Natur, überlassen? Die Behörden und die große Mehrheit der Anwohner sind eindeutig für die Rekultivierung, so wie ihnen das die Leipziger schon seit geraumer Zeit vormachen. Die sind gerade dabei, ihre stillgelegten Braunkohlengruben im Westen und Süden der Stadt in äußerst ansehnliche Wohn- und Erholungsgebiete zu verwandeln; mit gesalzenen Grundstückspreisen, versteht sich.

Aber auch der Traditionspflege soll Genüge getan werden. Schließlich waren die Abbaugebiete, bevor der Staat und die Industrie deren Bewohner vertrieben oder weggraulten, jahrhundertealter Kulturboden gewesen, geprägt von schönen Dörfern mit ehrwürdigen Kirchen. Manches von dem, was durch den Braunkohlentagebau zum Verschwinden gebracht wurde, soll nun im Zuge der Rekultivierung wieder sichtbar werden. Es sollen also keineswegs öde moderne „Wohnanlagen“ entstehen, sondern echte „Landschaften“, in denen sich zum Beispiel auch indigene Vögel und Kleinsäuger wohlfühlen könnten.

Die Leipziger scheinen mit ihrer Rekultivierung bisher recht gut voranzukommen. In der Lausitz jedoch melden sich immer mehr „Naturalisierer“  zu Wort, Biologen, Ökologen, jugendliche Klimaretter, leidenschaftliche Naturfreunde alten Stils. Sie haben die Medien hinter sich und liefern die meisten Wortmeldungen bei lokalen Bürgertreffen. Und sie wenden sich frontal gegen die Rekultivierungspläne der Behörden. Zum ersten Mal, so sagen sie, bietet sich jetzt in Mitteleuropa die Möglichkeit, weite Flächen (eben die alten Braunkohlenreviere) „der Natur zurückzugeben“; das solle man unbedingt nutzen.


Ihre Parole lautet: „Mut zur Wildnis!“ Die aufgegebenen Abbauflächen sollen nicht einfach in „Naturparks“ wie etwa im Bayerischen Wald oder an der Müritz in Mecklenburg verwandelt werden, wo ein Heer von aufgeklärten Oberförstern letztlich doch für behutsame menschliche Führung sorgt, sondern ihre inneren Zustände sollen künftig durch und durch „natürlich“ ablaufen, das heißt, jegliche menschliche Einmischung soll strikt verboten und gegebenenfalls strengstens bestraft werden. Dann werde uns, so heißt es bei den Naturierern, endlich einmal die gewaltige Weisheit der Natur aufgehen, ihre Klugheit, Gerechtigkeit, vor allem ihre Schönheit.

Die zur Begründung mitgelieferten Fernsehfilme sind tatsächlich – Pankraz räumt es ohne weiteres ein – meistens  sehr schön und vermitteln einem auch ein gutes Bild von der ungeheuren Raffinesse der lebendigen Kreatur, wenn es gilt, das eigene Leben und den Fortbestand der eigenen Art zu sichern.

Und man sieht auch erstaunliche Beispiele von Bio-Symbiosen, wo sich eine Art mit einer von ihr völlig verschiedenen anderen Art zusammentut, um den Erhalt gewisser günstiger Zustände zu garantieren, also ein, wie Ökologen sagen, „natürliches Gleichgewicht“ herzustellen.

Von Gerechtigkeit kann freilich in den Sequenzen nirgendwo die Rede sein, nicht einmal ansatzweise. Die Natur ist ihrem Wesen nach von oben bis unten unmoralisch, was schließlich auch ihrer angeblichen „Schönheit“ im Wege steht. In ihr geht es ausschließlich um krassesten Egoismus, um Fressen und Gefressenwerden; die ästhetische Perspektive ist immer eine Zutat des menschlichen Betrachters. Schöbe man sie beiseite, würde alles zusammenschrumpfen zu einer fatalen Bilderkette von Anschleichen und Losspringen, Flucht und Verfolgung, Aas- und Kotfresserei.

Und noch etwas anderes ignorieren die Lausitzer Kulturverächter: Der Mensch, selber ein Naturprodukt, will sich die Natur nicht nur via Ästhetik ansehnlich machen, sondern er will sie – komme, was da wolle – auch verändern, will sie in ein Paradies verwandeln, und zwar nicht nur für sich selbst, sondern überhaupt und im ganzen. Schon in den frühesten Kulturpraktiken war diese Tendenz, wie die Archäologie an den Tag gebracht hat, lebendig. Die Vergöttlichung gewisser, insbesondere visuell machtvoller Tierarten, Elefant, Löwe, Adler, liefert dafür hinreichend Belege.


Einerseits mußte man sie jagen und aufessen, andererseits wollte man mit ihnen in geistigen Kontakt treten, sie als gleichberechtigte oder gar weit überlegene Kräfte aus der bloßen Natur herausheben, sie zur Kultur herüberziehen. Dieser Zwiespalt zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Menschheitsgeschichte, prägte nicht nur die frühen Versuche in Dichtung und bildender Kunst, sondern auch solche Phänomene wie etwa die Haustierhaltung. Sie beruhte keineswegs nur auf ökonomisch-praktischen Erwägungegen, ihr waren von Anfang an auch kameradschaftliche, quasi religiöse Impulse beigemischt.

Was also den Umgang mit den Braunkohlenhalden betrifft, so hat das Leipziger Bemühen um die Schaffung von Naturparks zweifellos die besseren historischen Karten als der Lausitzer Naturalistenaufruf zum „Mut zur Wildnis“. Und was die gegenwärtige Lage betrifft: Mut zur Wildnis brauchen wir gewiß nicht extra zu organisieren, er ist uns ja eingeboren, markiert gewissermaßen die schwarzen Bestandteile des roten Fadens, der unsere Existenz durchzieht.Nötig ist statt dessen mehr Mut zu erträglicher Ordnung, sowohl zwischen den Menschen als auch zwischen Mensch und Natur.

Wenn uns in den Filmen der Naturalisten mit aufdringlicher Ausführlichkeit gezeigt wird, wie sich Uferschwalben in von Braunkohlebaggern verlassenen und seitdem von Menschen unbehelligt gebliebenen Erdwänden ihre Brutnester bauen, so ist das nichts als pure Augenwischerei. Denn dafür braucht es keine Natur. Dieselben Schwalben bauen ihre Nester auch in günstig gelegenen, vor größeren Raubvögeln geschützten Tiefgaragen. Will sagen: Wildnis ist überall.

Zum Glück gibt es in den Naturparks aufmerksame Oberförster.