© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/19 / 02. August 2019

Trauerdekade für die Orthographie
Zehn Jahre lang zwanzig Jahre Rechtschreibreform
Thomas Paulwitz

Zwanzig Jahre Rechtschreibreform – schon wieder? Wer sich diese Frage stellt, liegt richtig, denn diesen Trauertag der deutschen Orthographie begingen wir bereits mehrmals. Seit 2016 befinden wir uns in einer Dekade, in der wir alle paar Jahre an „20 Jahre Rechtschreibreform“ denken können. Und schon das zeigt an, wie verkorkst die Neuregelung der Rechtschreibung ist. Zehn Jahre lang mußte der vermeintliche große Wurf nachgebessert werden, bis er schließlich – immer noch fehlerhaft – gegen den Willen der Bevölkerung durchgesetzt werden konnte.

2016 war es 20 Jahre her, daß Vertreter aus acht Staaten in Wien trotz Protesten die „Gemeinsame Absichtserklärung zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung“ unterzeichneten. Bereits einen Tag nach dem 1. Juli 1996 war das erste Wörterbuch auf dem Markt: Das wirtschaftliche Interesse beherrschte von Anfang an den Verlauf der Reform und beeinflußte sie stärker als Erkenntnisse aus der Sprachwissenschaft.

Warnung vor fehlerhafter Regelung

Im Mai 1998 warnten 600 Germanistik-Professoren vor der „fehlerhaften Regelung“. Doch auch sie konnten nicht verhindern, daß wir 2018 den nächsten 20. Jahrestag bekamen. Am 1. August 1998 wurde die Rechtschreibreform an Schulen und Behörden verbindlich – trotz Klagen vor Gerichten, trotz eines ablehnenden Volksentscheids in Schleswig-Holstein, trotz mangelnder Zustimmung der Deutschen.

Welcher 20. Jahrestag steht nun 2019 an? In diesem Jahr denken wir an die Umstellung der Nachrichtenagenturen und Tageszeitungen auf eine abgespeckte Fassung der Rechtschreibreform zum 1. August 1999. Und auch dieses Jubiläum ist kein Grund zu feiern. Welches Chaos die mißlungene Reform bewirkte, läßt sich daran ablesen, daß etliche Medien zwischenzeitlich aus dem Neuschrieb-Experiment ausstiegen und sich eigene „Hausregeln“ gaben.

Erst kürzlich gestand die Gesellschaft für deutsche Sprache, die dem 2004 gegründeten Rat für deutsche Rechtschreibung angehört, der bis zum Jahr 2006 eine halbherzige Reform der Reform erarbeitete, das Scheitern der Rechtschreibreform ein. Sie hatte die Sprachanfragen der letzten Jahre untersucht. Der „orthographische Entscheidungsspielraum“ mache den Deutschen zu schaffen. Verunsicherung der Schreibenden durch unlogische Parallelschreibungen – auch ein Erbe der Reformer. Doch um Sachverstand ging es ja nicht.