© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/19 / 02. August 2019

Zur „Mitte-Studie“ der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung
Jeder, der abweicht, ist böse
Lothar Fritze

Schon wieder eine Studie, die zu zeigen versucht, wie der deutschen Gesellschaft angeblich ihre „Mitte“ abhanden kommt. Eine solche geistige Erosion der Gesellschaft wird dann als gegeben angenommenen, wenn sich in ihrer Mitte extremistische Meinungen einnisten. Daß dies tatsächlich der Fall ist, behauptet eine von der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung herausgegebene und als „Mitte-Studie“ bekanntgewordene Untersuchung des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld (vgl. Andreas Zick/Beate Küpper/Wilhelm Berghan: „Verlorene Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2018/19“, Bonn 2019).

 Nun mögen sich beträchtliche Teile der Bevölkerung durch diese Umfrageergebnisse vor den Kopf gestoßen fühlen. Dies allein ist kein Grund, an der Wissenschaftlichkeit der Erhebungen zu zweifeln. Wenn allerdings die Ergebnisse durch eine tendenziöse Festlegung der Begriffe und eine unklare oder auslegungsfähige Formulierung der Antwortmöglichkeiten vorgeprägt sind, besteht Anlaß zur Skepsis.

Aus dieser Mitte fällt tendenziell heraus, wer beispielsweise Obdachlose als störend für das öffentliche Erscheinungsbild empfindet, so die Studie. Wer die Auffassung vertritt, daß Menschen mit Behinderungen für eine Gesellschaft eine (nicht genauer spezifizierte) Belastung darstellen können, verbreitet negative Vorurteile gegenüber Gruppen von Menschen und „markiert“ diese als „ungleichwertig“. Eine menschen-feindliche Einstellung offenbart, wer der Meinung ist, daß es besser wäre, wenn weniger Ausländer und weniger Muslime in Deutschland lebten; wer die Vermutung teilt, daß die meisten Asylbewerber in ihrem Heimatland gar nicht verfolgt werden; wer es ablehnt, daß der Staat bei der Prüfung von Asylanträgen großzügig sein sollte. (vgl. ebd. S. 68) Ein Sexist (im traditionellen Sinne) ist, wer (aus welchen Gründen auch immer) der Meinung ist, Frauen sollten sich „wieder mehr auf die traditionelle Rolle der Ehefrau und Mutter besinnen“ (S. 68; wo nicht anders gekennzeichnet, stammen alle weiteren Zitate aus besagter Studie).

Keine der stigmatisierten Auffassungen muß man vertreten, jede dieser Auffassungen kann und darf man vertreten, denn in keinem einzigen Fall werden dadurch einem Menschen Grundrechte abgesprochen. Wer es als störend empfindet, wenn Obdachlose in Fußgängerzonen ihr Lager aufschlagen, oder der jedermann bekannten Tatsache Ausdruck verleiht, daß die Pflege behinderter Menschen mit seelischen und wirtschaftlichen Belastungen verbunden sein kann, erweist sich dadurch nicht als ein Menschenfeind. Wer einen ungeregelten oder auch zu starken Zuzug von Ausländern und speziell von Muslimen für problematisch hält, wertet allein dadurch keine der Gruppen ab; vielleicht rechnet er nur mit einem höheren Konfliktpotential und plädiert für dessen Vermeidung.

Die entscheidende Frage ist, welche Meinungen gemessen an welchen Kriterien zu Recht als „extremistisch“ etc. zu gelten haben. Sofern diese Frage überhaupt Thema ist, sind die diesbezüglichen Antworten der Autoren vorurteilsbelastet.

Auch die (zudem erfahrungsgestützte) Vermutung, daß mit gesellschaftlichen Konflikten zu rechnen ist, wenn Menschen, die sich der Scharia verpflichtet fühlen, in einen demokratischen Rechtsstaat einwandern, wertet weder diese Gläubigen noch ihre Religion pauschal ab, sondern konstatiert allein eine Inkompatibilität zweier Regelsysteme. Ob die meisten Asylbewerber in ihren Heimatländern verfolgt werden, ist eine reine Sachfrage; die Tatsache, daß die meisten Asylanträge negativ beschieden werden, spricht dafür, daß die inkriminierte und zum „Syndrom der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ gerechnete Vermutung zutrifft.

Ebensowenig kann sinnvoll von „Menschenfeindlichkeit“ gesprochen werden, wenn man der Forderung nicht zustimmt, daß Beamte ihren Ermessensspielraum einseitig in einer bestimmten Richtung nutzen sollten; auch für die Ablehnung dieser Forderung sowie für die Legitimität einer solchen Ablehnung ließen sich Gründe anführen. Und deshalb auch bestätigt der Umstand, daß Menschen, die sich besagte Forderung nicht zu eigen machen, sehr häufig auch einen starken Zuzug von Ausländern und insbesondere von Muslimen kritisch sehen und deren Asylbegehren hinterfragen, keineswegs die Richtigkeit und Dignität des „Syndroms der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“.

Dies sind nur einige Bedenken, die sich gegen die „Mitte-Studie“ anführen lassen. Die entscheidende Frage ist, welche Meinungen gemessen an welchen Kriterien zu Recht als „extremistisch“, „rechtspopulistisch“ oder „antisemitisch“ etc. zu gelten haben. Sofern diese Frage überhaupt Thema ist, sind die diesbezüglichen Antworten der Autoren vorurteilsbelastet, zum Teil hochgradig unplausibel und im Ganzen gesehen unzureichend. Nach gängiger Definition können beispielsweise „rechtsextremistisch“ nur Meinungen genannt werden, die mit dem Geist des Grundgesetzes unvereinbar sind, Einstellungen, die sich in Gegnerschaft zu den zentralen Spielregeln und Prinzipien des demokratischen Verfassungsstaates befinden.

Das Extremismusverständnis der Autoren der „Mitte-Studie“ scheint jedoch deutlich weiter gefaßt. Antidemokratische Einstellungen wollen sie „auch und vor allem“ daran messen, „inwieweit durch Vorurteile die Ungleichwertigkeit von Gruppen zementiert wird“. Sie konstruieren ein „Syndrom der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“, das „die offenen und subtilen Einstellungen, Stereotypisierungen, Ressentiments, Feindseligkeiten und Abwertungen von Gruppen in der Gesellschaft“ erfaßt.

Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit liegt ihrer Auffassung nach vor, wenn diese Gruppen „als abweichend von der jeweils eigenen Gruppe wahrgenommen“ und damit „als ungleich markiert“ werden, denn aus „der Markierung als ‘ungleich’“, so versichern die Autoren, ohne dies zu begründen oder auch nur zu erläutern, folge „die ‘Ungleichwertigkeit’“. Und von anderen Gruppen oder Personen „eine Ungleichwertigkeit“ zu behaupten, vertrüge sich nicht mit dem „Grundsatz der Gleichwertigkeit aller Menschen in Demokratien“.

Dies sind Formulierungen und Behauptungen, die sich keineswegs von selbst erschließen. Der Begriff der Menschenfeindlichkeit ist unklar. Er dient dazu, Positionen, die die Studienautoren nicht teilen, in das Reich des Undenk- und Unsagbaren zu verweisen. Ein Grundsatz der Gleichwertigkeit aller Menschen ist verfassungsrechtlich unbekannt. Menschen haben im demokratischen Rechtsstaat die gleichen Grundrechte. Daß sie auch „gleichwertig“ sind oder eine Gruppe von „Gleichwertigkeit abgehalten“ wird, sind unverständliche Formulierungen. Sie werden vermutlich bewußt unklar gehalten, um die zugrundeliegende Gleichheitsvision und daraus resultierende Forderungen nach einer gesellschaftlichen Transformation nicht deutlich werden zu lassen. Theologen mögen von einem „Zusammenhalt in Gleichwertigkeit“ reden; in einer sozialwissenschaftlichen Studie ist diese Formulierung semantischer Unsinn. Von einer „Gleichwertigkeit“ von Menschen zu sprechen mag allenfalls in bezug auf ein jeweils vorausgesetztes Kriterium angehen.

Zudem ist die gesamte Studie darauf ausgerichtet, Ungleichheiten zwischen Gruppen festzustellen – nämlich Differenzen zwischen der Gruppe der Demokraten einerseits und den Gruppen der Rechtsextremisten, der Antisemiten etc. andererseits zu „markieren“. Sind die Personen dieser Gruppen nun gleichwertig? Falls die Gleichwertigkeit von Demokraten und Rechtsextremisten beziehungsweise Antisemiten bestritten wird, hätten sich die Autoren zu fragen, ob sie sich mit ihren Definitionen und Differenzierungen nicht selbst in die Gruppe der Menschenfeinde einordnen.

Tatsächlich wird in der Studie der Grad der Abweichung von der Ideologie des derzeit dominierenden politischen Hegemons gemessen und zur Grundlage der Stigmatisierung eines beträchtlichen Teiles der Bevölkerung

genommen. 

Die Studie leistet nicht das, was zu leisten sie vorgibt. Statt rechtsextremistische und undemokratische Einstellungen zu messen, gibt sie, jedenfalls auch, Auskunft darüber, in welchem Umfang Meinungen in der Bevölkerung verbreitet sind, die von den Vorurteilen der Studienverfasser abweichen. So wird eine rechtspopulistische, undemokratische Orientierung pauschal jenen zugeschrieben, die „eine Dominanz für die eigene nationale Bezugsgruppe durchsetzen“ möchten. Wer als Deutscher also etwa fordert, daß Ausländer sich zu integrieren, nicht aber Deutsche den Gepflogenheiten der Neuansiedler anzupassen haben, wird von den Verfassern unter den „Rechtspopulisten“ und „Undemokraten“ verortet.

Gemessen am Maßstab der in Deutschland gegenwärtig als moralisch und staatspolitisch richtig geltenden Antwort mag diese Klassifizierung zutreffend sein. Tatsächlich aber wird der Grad der Abweichung von der Ideologie des derzeit dominierenden politischen Hegemons gemessen und zur Grundlage der Stigmatisierung eines beträchtlichen Teiles der Bevölkerung genommen.

Gefahren für die Demokratie, so die Botschaft der „Mitte-Studie“, gehen wesentlich von den aktuellen Orientierungen der Mitte der Gesellschaft aus. Falsche Ideen, Vermutungen und Meinungen können, so behaupten sie, „die Mitte instabil [machen]“, und zwar dann, wenn „sie eine auf wissenschaftlicher und reflektierter Evidenz basierende Einschätzung von Realitäten in Frage stellen“. Das heißt, die Autoren glauben, daß ergebnis­offene Forschungen und Diskussionen, wie sie von den Institutionen eines freiheitlichen Staates garantiert werden, die Demokratie gefährden. Zu solchen gefährlichen Ideen rechnen die Autoren neben „Verschwörungs- und Konspirationsmythen“ auch „Untergangsszenarien“; wahlweise jedoch können alle Auffassungen dazu gezählt werden, die von der „wissenschaftlichen Weltanschauung“ des politisch-ideologischen Hegemons abweichen.

Während der liberale Denker John Stuart Mill noch der Meinung war, daß man eine bestimmte Überzeugung, „so richtig sie auch sein mag, nur für totes Dogma und nicht als lebendige Wahrheit ansehen kann, wenn sie nicht vollständig, oft und furchtlos zur Debatte gestellt wird“ („Über die Freiheit“, Stuttgart 1988, S. 49), und während er darin ein Mittel zum Finden der Wahrheit und des richtigen Verhaltens sowie zur Beförderung des gesellschaftlichen Fortschritts sah, glauben Autoren, die sich über illiberale Einstellungen besorgt zeigen, daß von der Infragestellung einer von ihnen als zutreffend angesehenen „Einschätzung von Realitäten“ eine Gefährdung der Demokratie ausgeht! Kann es wirklich sein, daß diesen Wissenschaftlern die immanenten Widersprüche ihrer Position verborgen geblieben sind?






Prof. Dr. Lothar Fritze, Jahrgang 1954, Philosoph und Politikwissenschaftler, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden, lehrt als außerplanmäßiger Professor an der TU Chemnitz. Letzte Buchveröffentlichung: „Die Moral der Nationalsozialisten“, Olzog Edition im Lau-Verlag, Reinbek 2019. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über das Fortleben der kommunistischen Ideologie („Die Verkleidung gewechselt“, JF 10/16).

Foto: Kontrolleingriff in die Gedankenwelt des Bürgers: Die „Mitte-Studie“ arbeitet mit dem unklaren Begriff der Menschenfeindlichkeit, um Positionen, die die Studienmacher nicht teilen, undenkbar und unsagbar zu machen