© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/19 / 02. August 2019

Das konservative Gegenmodell zur EUdSSR
Radikal subsidiär mit strukturellen Parallelen zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation: David Engels beschreibt ein alternatives Modell Europas
Michael Dienstbier

Gesellschaftlich-politische Reformprojekte fallen nicht vom Himmel, sondern entwickeln sich über viele Jahre hinweg im vorpolitischen Raum, um dann von einer gerade amtierenden Regierung aufgegriffen und umgesetzt zu werden. Dabei müssen erfolgreiche vorpolitische Initiativen mindestens zwei Bereiche erobern, um gesamtgesellschaftlich wirkungsmächtig zu werden: die Universitäten und die Straße. 

An den Universitäten werden Begriffe gebildet, die dann auf Demonstrationen für alle sicht- und hörbar ins Bewußtsein skandiert werden. Der Erfolg der „Diversity“- und Genderideologie zeigt beispielhaft, wie allumfassend lange vorbereitete gesellschaftliche Transformationsprozesse sein können. Ob dem Begriff „Hesperialismus“ eine ähnliche Erfolgsgeschichte beschieden sein wird? Aus dem Griechischen stammend und den äußersten Westen der bekannten Welt bezeichnend, beschreibt dieses vom Brüsseler Althistoriker David Engels entwickelte Konzept ein konservatives Reformprojekt für Europa, das vom derzeit auf Ökonomisierung und Vereinheitlichung ausgerichteten EU-Zeitgeist nicht weiter entfernt sein könnte. Der vorliegende von Engels herausgegebene Sammelband ist das Ergebnis der Forschungsinitiative „Renovatio Europae“, die sich 2018/19 am West-Institut (Instytut Zachodni) in Posen mit grundlegenden Reformvorschlägen für die Europäische Union beschäftigte.

Es verwundert dementsprechend nicht, daß mit Zdzislaw Krasnodebski und András Lánczi gleich zwei Osteuropäer vertreten sind, die hier die Relevanz souveräner Nationalstaaten für die Zukunft des Kontinents betonen. Krasnodebski, Vizepräsident des Europäischen Parlaments für die polnische PiS-Partei, beschreibt in seinem auf persönlichen Erfahrungen basierenden Beitrag, mit welcher Verachtung die Brüsseler EU-Elite auf europäische Traditionen herabblicke. So habe er aus einem von ihm verfaßten Bericht über die Lage der Erziehung in Europa sämtliche Verweise auf Christentum und klassische Antike herausstreichen müssen, da diese für ein offizielles Dokument der EU zu „reaktionär“ seien. Gegenüber den Osteuropäern werde ein „wahrer Messianismus politisch korrekten Denkens“ deutlich, der in seiner Absolutheit erschreckende Züge trage. Vor allem der Niederländer  Frans Timmermans, Spitzenkandidat für die Sozialisten bei den jüngsten EU-Wahlen, falle regelmäßige durch moralische Arroganzanfälle auf.

Noch grundlegender wird Lánczi – Vordenker von Viktor Orbáns Fidesz-Partei –, der in seinem Beitrag zu einer neuen europäischen Verfassung heftige Kritik an den „Exzessen des Liberalismus“ übt, um im selben Atemzug das Konzept einer illiberalen Demokratie zu verteidigen. Es sei dem Illiberalismus, so der Autor, mitnichten daran gelegen, „die Freiheit zu beseitigen“, sondern er möchte Europa „vor den Exzessen des Liberalismus schützen und somit die tatsächliche Freiheit garantieren“. Konkret warnt Lánczi vor einem Zuviel an Individualismus, Rationalismus, Legalismus und Fortschritt, die, absolut gesetzt, den Kern eines neuen Totalitarismus in sich trügen.

Europäische Kommission würde abgeschafft werden

Aus Deutschland sind der Ökonom Max Otte und die Publizistin Birgit Kelle vertreten, die sich mit ihren jeweiligen Kernthemen – Wirtschaft und Familie – auseinandersetzen. Es obliegt dann aber David Engels, im abschließenden Beitrag die von seinen Mitstreitern aufgeworfenen Gedanken zu konkreten Reformvorschlägen zusammenzufassen und somit das abstrakte Konzept des Hesperialismus mit Leben zu füllen. 

Engels schlägt ein Zweikammersystem aus Parlament und Rat vor; ein Präsident solle für Friedensangelegenheiten zuständig sein, die Kommission gehöre abgeschafft. Für sieben supranational relevante Bereiche wie Verteidigung, Finanzen oder Bildung sollen Sekretäre eingesetzt werden, um nationalstaatliche Aktivitäten miteinander zu koordinieren. Kulturelle Basis Europas könne allein das Christentum sein, sei es auch nur in Form eines säkularisierten Kulturchristentums. Sein Europa sei, so Engels, radikal subsidiär und weise durchaus strukturelle Parallelen zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation auf. 

In Zeiten, in denen die veröffentlichte Meinung täglich nach mehr Vereinigten Staaten von Europa ruft, braucht es eine konservative Gegenbewegung, die das Regionale und Nationale betont und sich von den auf Vereinheitlichung setzenden Supranationalisten nicht mundtot machen läßt. Der vorliegende Band ist ein wichtiger Beitrag im Kampf um das Europa, das unser aller Heimat ist und dessen Fortbestand zur Zeit aus seinem Innersten bedroht wird sowie eine Absage an eine „EUdSSR“.

David Engels: Renovatio Europae. Plädoyer für einen hesperialistischen Neubau Europas. Manuscriptum Verlag, Lüdinghausen 2019, gebunden, 224 Seiten, 12,80 Euro