© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG  www.jungefreiheit.de 33/19 / 09. August 2019

Ralph Knispel. Der Staatsanwalt warnt öffentlich vor dem Kollaps unseres Rechtsstaats.
„Die lachen uns aus“
Ronald Berthold

Den Wutanfall des Clanchefs nimmt Ralph Knispel gelassen. „Das gehört zum Berufsalltag eines Staatsanwalts“, sagt der Mann in der schwarze Robe ruhig. Der Tumult, den Issa R. jüngst im Saal des Berliner Landgerichts anzettelte, richtete sich gegen den Ankläger: „Ich kenne Sie!“ drohte der Araber, Respekt habe er „für dich absolut gar nicht, Herr Staatsanwalt!“ 

Es ist das zweite Mal innerhalb kurzer Zeit, daß der Jurist ins Blickfeld der Öffentlichkeit geraten ist. Im ZDF hatte der 58jährige gebürtige Berliner Anfang Juli von einer Kapitulation des Rechtsstaats vor der Kriminalität gesprochen. Und erklärt, die Verbrecher „lachen uns aus“. Allein in Berlin würden derzeit 8.500 Haftbefehle nicht vollstreckt. Daraus zieht Knispel politisch unkorrekte Schlüsse. Im Fall der mutmaßlichen Freiburger Gruppenvergewaltigung vom Oktober 2018 habe gegen den Hauptangeklagten bereits ein Haftbefehl vorgelegen: „Da er sich dennoch auf freiem Fuß befand, konnte er offenbar die Sexualstraftat begehen, derer er dringend verdächtig ist.“ Sprich, wäre der Staat konsequent gewesen, hätte es dieses Verbrechen nicht gegeben.

Strafrechtlich, so sein alarmierendes Fazit, sei unser „Rechtsstaat in weiten Teilen nicht mehr funktionsfähig“. Folge: Das Vertrauen der Bürger in die Justiz sinke „immens“. Vielleicht trägt auch der Freispruch des Clanmitglieds vom Mordvorwurf dazu bei. Issa R.s Ausbruch erschien daher um so unverständlicher und war wohl eine Machtdemonstration. Doch unbeirrt hat Knispel Revision eingelegt. Möglicherweise wird er den Fall bis vor den Bundesgerichtshof bringen.

Der Oberstaatsanwalt leitet die Abteilung Kapitalverbrechen. Zudem sitzt er der Vereinigung Berliner Staatsanwälte vor. In dieser Funktion prangert er den eklatanten Personalmangel an, der dazu führe, daß Straftäter, sogar Mordverdächtige, immer öfter aus der Untersuchungshaft entlassen würden, da die überlasteten Gerichte die Fristen nicht einhalten könnten – nämlich die gesetzliche Höchstdauer der U-Haft bis zur Prozeßeröffnung.

Knispel, seit 1991 Staatsanwalt, gehört zu den wenigen Insidern, die die katastrophalen Zustände öffentlich beklagen. Allein die Auswertung von DNS-Proben dauere zwei bis drei Jahre. Und der Jurist räumt ein, was die Politik stets bestreitet: Es gebe in Berlin Bereiche, in denen sich die Bürger nachts nicht mehr sicher fühlten. Selbst die öffentlichen Verkehrsmittel zählt er dazu. Sogar Polizisten seien in etlichen Stadtteilen „einer zu hohen Gefährdung ausgesetzt“.

Nur noch innerlich abwinken kann Knispel, wenn Politiker mal wieder versprechen, künftig mit der ganzen Härte des Gesetzes durchzugreifen. Angesichts der überbordenden Kriminalität in der Bundeshauptstadt wählt er einen frustrierenden Vergleich: Die Justiz versuche, einen Wasserfall mit einem Wasserglas aufzuhalten.