© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG  www.jungefreiheit.de 33/19 / 09. August 2019

Hänsel und Gretel neu aufgelegt
Italien: Ein großangelegter Kindesmißbrauch erregt die Gemüter / Sozialdemokraten am Pranger
Marco F. Gallina

Es klingt wie ein Thriller aus dem US-Kino, spielt aber in der italienischen Provinz: Kinder, die ihren Eltern entfremdet, weggenommen und in Pflegefamilien gesteckt werden. Bibbiano, eine Kleinstadt in der Emilia-Romagna, sorgt deshalb für Schlagzeilen. Aus einem Herstellungsort für den weltweit berühmten Parmesan ist eine Chiffre für Kindesmißhandlung, mafiöse Strukturen und Sozialexperimente geworden. Die kriminellen Verbindungen reichen dabei bis in die Politik hinein. 

Ende Juni verhaftete die Polizei 18 Personen: Ärzte, Sozialarbeiter, Psychotherapeuten und Politiker. Darunter auch den Bürgermeister von Bibbiano, Andrea Carletti. Er steht immer noch unter Hausarrest.

Im Mittelpunkt steht ein Therapiezentrum, das von der Turiner Stiftung „Hansel e Gretel“ betrieben wird. Der Direktor der Stiftung, Claudio Foti, fiel der Justiz auf, weil er seine Frau und seine Kinder mißhandelt haben soll. Der Corriere della Sera ordnete den Psychotherapeuten als eine Mischung aus „Engel“ und „Dämon“ ein. „Angeli e Demoni“ heißt auch die Untersuchung, die erschütternde Details ans Licht bringt. 

Gezielt suchten die Sozialarbeiter nach Kindern mit Eltern in finanziellen Nöten: Migranten, Arbeitslose oder Geringverdiener. Dann manipulierten die Psychotherapeuten gezielt: durch Suggestion, durch falsche Impulse und Kinderzeichnungen, die von den Mitarbeitern anschließend manipuliert wurden, um vermeintliche Mißbrauchsmuster einzuweben. Eine „Erinnerungsmaschine“ half den Kindern mit Elektroschocks, sich an den Mißbrauch zu „erinnern“. Die Anklageschrift spricht von „systematischer Gehirnwäsche“ und „exorzistischen Praktiken“. 

Vorrangiges Ziel der Psychotherapeuten war wohl Geld. 135 Euro zahlte die Gemeinde Bibbiano pro Therapiestunde (das Doppelte der üblichen 60 bis 80 Euro). Dazu Gehälter für Sondermaßnahmen, Fortbildungen, Anwälte und Zahlungen von Pflegefamilien. Das Geschäft mit den Kindern soll Hunderttausende Euro in die Kasse gespült haben.

Daß die Politiker von Bibbiano – inklusive des suspendierten Carletti – allesamt zum sozialdemokratischen Partito Democratico (PD) gehören, heizt die politische Dimension des Falls an. Politiker des PD warnen daher bereits vor einer politischen Instrumentalisierung. Dennoch äußerrte sich Luigi Di Maio, dessen Fünf-Sterne-Bewegung mit dem PD liebäugelte, um Innenminister Matteo Salvini unter Druck zu setzen, er habe keinerlei Absicht, mit einer Partei zu kooperieren, die „Kinder ihren Familien wegnimmt und mit Elektroschocks traktiert“. Salvini forderte strikte Aufklärung: „Ich werde mir keinen Frieden geben, bis nicht das letzte Kind, das seiner Familie zu Unrecht gestohlen wurde, zu Mama und Papa zurückgekehrt ist.“